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19. März 2020

Die Kunst in den Zeiten der Covid-19

Stand: 13. Mai 2020

 

Wie für alle Selbstständige in prekären Arbeitsverhältnissen trifft die Pandemie sehr viele Kunstschaffenden besonders hart. Eröffnungen und Auftritte werden abgesagt, Galerien und Ausstellungsinstitutionen bleiben geschlossen, und sogar die Kunstproduktion kann in den meisten Fällen nur begrenzt fortgeführt werden. Dabei bleibt das größte Problem der breiten Mehrheit der Künstler*innen der Wegfall ihrer Nebenbeschäftigung, die für ihr finanzielles Überleben unabdingbar ist.

 

Nachdem die Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW, Frau Pfeiffer-Poensgen, bereits am 13. März versichert hat, „Initiativen, Einrichtungen und Einzelkünstler, die durch die aktuelle Lage unverschuldet in existenzielle Nöte geraten sind, zu unterstützen“, werden die einzelne Maßnahmen nach und nach bekannt gegeben – auch auf dieser Seite. Wir sammeln also Informationen, die für bildende Künstler*innen hilfreich sein können. Und sind für Ihre Hinweisen, Ideen und Anmerkungen im Zusammenhang mit der aktuellen Krise sehr dankbar!

 


13.5 Die NRW-Soforthilfe und das MKW-Soforthilfe-Programm werden ausgeweitet

Die Verwendungsbedingungen der für bildende Künstler*innen in NRW relevanten Hilfsprogrammen wurden nachgebessert. Hier die (sehr) kurze Zusammenfassung:

 

– MKW-Soforthilfe-Programm („2.000€-Hilfe“): Antragsberechtigte, die bereits einen Antrag gestellt haben, bislang aufgrund der Mittelbegrenzung auf fünf Millionen Euro jedoch nicht zum Zuge gekommen sind, erhalten unter Nachweis ihrer künstlerischen Tätigkeit (Mitgliedschaft in Künstlersozialkasse oder anderem Künstlerbund) einen finanziellen Zuschuss für ihren Lebensunterhalt in Höhe von 2.000 Euro für die Monate März und April. Voraussetzung ist, dass sie im März und April keine Leistungen aus dem MKW-Programm, der NRW-Soforthilfe 2020 oder der Grundsicherung bezogen haben.

 

– NRW-Soforthilfe („9.000€-Hilfe“): Nach dem Willen der Bundesregierung darf die Soforthilfe nur für laufende betriebliche Sach- und Finanzaufwendungen verwendet werden und nicht für den Lebensunterhalt. Damit Solo-Selbstständigen, die im März und April keinen Antrag auf Grundsicherung gestellt haben, daraus kein Nachteil entsteht, gewährt die Landesregierung ihnen für diese Monate einen indirekten Zuschuss von insgesamt 2.000 Euro.

 

Mehr Informationen hier.

 

 

12.4 Handreichung für die Unterstützung selbstständiger und freier Kulturschaffender von ver.di

Unter den Maßnahmen gegen die Verbreitung des Covid-19 leiden nicht nur Künstlerinnen und Künstler. Veranstaltungsabsagen treffen diese Gruppe der Solo-Selbständigen und Freelancer im Kultur- und Kreativbereich besonders hart, weil sie meist prekär leben. Jetzt sind Kunstschaffende selbst, aber auch ihre Interessensvertretungen, die öffentliche Hand, Gesellschaft, Medien und Institutionen gefragt, sich für den Erhalt der lebendigen, freien und vielfältigen Kultur einzusetzen. Denn Kultur ist mit ca. 1,7 Millionen Kernbeschäftigten insgesamt (und davon ca. 500.000 Soloselbständigen) nicht nur drittstärkster Wirtschaftsfaktor (in Deutschland), sondern auch Grundnahrungsmittel einer freien und demokratischen Gesellschaft – und wird, gerade jetzt, wenn Sozialkontakte vermieden werden sollen und die häusliche Freizeit gefüllt werden will, mehr denn je genutzt werden. Gleichzeitig werden Autorinnen/Autoren und Künstlerinnen/Künstler dabei hohe Verluste durch ausfallende Engagements erleiden. Diesen Widerspruch gilt es aufzulösen – denn wer die Kultur für morgen erhalten will, sollte sich heute für sie einsetzen.

Mehr dazu hier

 

 

31.3: Erklärung Verbände bildender Künstlerinnen und Künstler

 

die angekündigten Nothilfepakete der Bundesregierung sind nun als Gesetze beschlossen: das „Sozialschutz-Paket“ und die „Corona-Soforthilfe für Kleinstunternehmen und Soloselbständige“. In Ergänzung zu den bereits beschlossenen Maßnahmen haben die Verbände Bildender Künstlerinnen und Künstler eine gemeinsame Erklärung mit Forderungen zur Erweiterung der bereits getroffenen Hilfen verfasst. Die vollständige Erklärung ist in der Anlage zu finden. Aktuelle und weiterführende Informationen, sowie Links zu Hilfsprogrammen gibt es unter: https://www.bbk-bundesverband.de/aktuelles/corona-pandemie/

 

 

30.3:  Soforthilfe  („9.000€-Antrag“)

 

Vor rund zwei Wochen hat das Kulturministerium die Beantragung einer Soforthilfe von 2.000 Euro für Kreativschaffende ermöglicht. Und zwar unabhängig davon, ob der Antragstellende eine Gewerbeanmeldung hat oder nicht. Da Freiberufler in der Regel kein Gewerbe angemeldet haben, konnten sie diese Soforthilfe auch beantragen. Jetzt können sie zusätzlich dazu noch die 9.000 Euro-Soforthilfe des Landes NRW beantragen. Hier ist nämlich jetzt die Hürde weggefallen, dass für die Antragstellung eine Gewerbeanmeldung vorliegen muss. Eine Kombination der 2.000 Euro- und 9.000 Euro-Hilfe wird somit möglich.

 

Die Antragsfrist für die Zuschüsse ist bis zum 31.05.2020 verlängert worden. Außerdem wurde der Hinweis aufgenommen, dass der Antrag erst gestellt werden soll, wenn die Voraussetzungen auf das Unternehmen zutreffen. Damit wird dem Rechnung getragen, dass der relevante Zeitraum für den zu erwartenden Umsatzeinbruch erst am 16.03.2020 begonnen hat und sich in vielen Fällen die gravierenden Auswirkungen erst im April/Mai 2020 zeigen werde. Sollten Sie unsicher sein, ob die Umsätze tatsächlich unter die 50% Grenze fallen werden, empfehlen Steuerexperten, dennoch den Antrag kurzfristig zu stellen. Schließlich wird es einige Zeit dauern, bis die Anträge abgearbeitet sind und das Geld ausbezahlt werden kann. Sollte sich bis dahin abzeichnen, dass sich Ihre Umsätze besser entwickeln als vorhergesehen, können Sie dies anzeigen, den Antrag zurückziehen und den Zuschuss zurückzahlen.

 

Um besondere Härtefallsituationen möglichst zu vermeiden, sollten Sie nach erfolgreicher Antragstellung auf Soforthilfe mit der Antragsbestätigung bei Ihrer Hausbank vorsprechen und ggf. nach Möglichkeiten einer Vorfinanzierung des zu erwartenden Zuschussbetrages fragen.

 

 

27.3: Pauschalbetrag für Ausstellungsausfälle

 

Viele bildende Künstlerinnen und Künstler haben in den ersten Tagen des Soforthilfeprogramms zurecht beklagt, dass ein Nachweis über einen Verdienstausfall für sie unmöglich ist, weil in der Regel ausfallende Verkaufsausstellung (z.B. Vernissagen, Versteigerungen u.ä.)  der Grund dafür sind. Die Bezirksregierungen haben deshalb nachgesteuert. Für jede nachgewiesene ausgefallene Veranstaltung zahlt das Land pauschal 300 € bis zu der im Programm vorgesehenen Grenze von 2000 € pro Person.

 

Zusätzlich zeichnet sich ab, dass über den Bundesrettungsschirm Kosten für Miete, Material und Ähnliches geltend gemacht werden können. Bitte informieren Sie sich fortlaufend!

 

 

 

Was passiert mit freischaffenden Künstlerinnen und Künstlern, die in Not geraten und nicht Mitglied der KSK sind?

Ein Teil dieses Programms ist als Fond zur Unterstützung von sogenannten Härtefällen reserviert. Die Gewährung des Zuschusses erfolgt in diesem Fall im Rahmen einer Einzelfallprüfung. Aufgelegt wird dieser Fonds für Künstlerinnen und Künstler, die eine Mitgliedschaft in der Künstlersozialkasse nicht nachweisen können, aber dennoch professionell und selbständig tätig sind. Der Nachweis über die künstlerische Tätigkeit ist durch die Mitgliedschaft z. B. in einer künstlerischen Vereinigung zu erbringen.

 

 

Was tun bei Einnahmenausfällen?

Dokumentieren Sie Ihre Ausfälle!!

 

Selbständige in der Künstlersozialversicherung versicherte Künstlerinnen und Künstler sollten jetzt, wenn sie absehen können, dass sie das im Voraus gemeldete Einkommen nicht erreichen, direkt eine neue Einkommensschätzung an Künstlersozialkasse senden. Die Künstlersozialkasse hält hierfür eine Reihe an Formularen bereit.

 

Weitere Informationen auf der ver.di-Seite.

 

 

Aussetzung und Herabsetzung von Steuerzahlungen

Auf Antrag können laufende Vorauszahlungen zur Einkommensteuer bzw. Körperschaftsteuer herabgesetzt oder ausgesetzt werden. Fällige Steuerzahlungen lassen sich stunden, Säumniszuschläge können erlassen werden. Auf Vollstreckungsmaßnahmen kann vorübergehend ebenso verzichtet werden. Bitte nehmt Kontakt zu eurem zuständigen Finanzamt auf.

 

 

Umgang mit Tätigkeitsverboten

Wer aufgrund des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) einem Tätigkeitsverbot unterliegt und einen Verdienstausfall erleidet, ohne krank zu sein, erhält grundsätzlich eine Entschädigung. In Nordrhein-Westfalen sind die Landschaftsverbände Rheinland (LVR) und Westfalen-Lippe (LWL) für die Entschädigung je nach dem Sitz der Betriebsstätte zuständig. Bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern hat der Arbeitgeber für längstens sechs Wochen, soweit tarifvertraglich nicht anders geregelt, die Entschädigung auszuzahlen. Die ausgezahlten Beträge werden dem Arbeitgeber auf Antrag vom Landschaftsverband Rheinland erstattet. Ab der siebten Woche wird die Entschädigung auf Antrag des Betroffenen vom LVR-Fachbereich Soziale Entschädigung an diesen direkt gezahlt.

Selbstständig Erwerbstätige stellen den Antrag auf Entschädigung direkt beim Landschaftsverband Rheinland. Voraussetzung für den Erhalt einer Entschädigung ist ein Verdienstausfall infolge eines Tätigkeitsverbotes bzw. einer Absonderung nach Infektionsschutzgesetz (IfSG). Der Antrag auf Entschädigung muss schriftlich innerhalb von drei Monaten nach Einstellung des Tätigkeitsverbots oder Ende der Absonderung beim LVR-Fachbereich Soziale Entschädigung gestellt werden.

 

Absage des Auftritts

Für bildende Künstler*innen in den Bereichen Performance, Klangkunst, Film und Video, etc, deren öffentlichen Auftritt abgesagt wurde, gelten folgende „Handlungsempfehlungen zum Schutz von freiberuflich arbeitenden Künstler*innen und Veranstalter*innen“, verfasst vom Verein Freies Ensemble und Orchester in Deutscland (FREO):

 

Die effizienteste Form von Hilfe ist die Sicherstellung, dass geschlossene Verträge zwischen Veranstalter*innen und freien Akteur*innen im Kultursektor nicht unter Force Majeure komplett aufgehoben werden, sondern für die freien Akteur*innen faire Ausfallbedingungen verhandelt werden können. Dies beschränkt eine riesige Vereinzelung der Notlagen und einen damit einhergehenden riesigen Verwaltungsaufwand in der Organisation von Unterstützung an Einzelne. Folgende Maßnahmen sind dafür zu nennen:

a) Es sollten keinerlei öffentliche Förderungen wegen Ausfall von einzelnen Veranstaltungen oder eines ganzen Festivals nicht ausgezahlt oder zurückgefordert werden. Dadurch sollen Veranstalter*innen in die Lage versetzt werden, zumindest einen Teil der Künstlerhonorare für abgesagte Veranstaltungen zahlen zu können. Zu den Künstler*innen zählen auch freie Techniker*innen, Projektmanager*innen, Maskenbildner*innen und andere Berufe „hinter der Bühne“, die genauso von den Ausfällen in dramatischer Weise betroffen sind. Bei der Auszahlung von Ausfallhonoraren sollten freischaffende Künstler*innen und freie Ensembles gegenüber solchen, die durch Festanstellung abgesichert sind, bevorzugt behandelt werden.

b) Ergänzend ist zu überlegen, wie auch zusätzliche Hilfen an die Vertragspartner der freien Akteur*innen diese in die Lage versetzen, Auslagen zu ersetzen und angemessene Ausfallhonorare zu zahlen, statt alle zugesagten Leistungen streichen zu müssen.

c) Von mehreren Seiten wurden u.a. unter dem hashtag #ichwillkeingeldzurück Kampagnen gestartet, die das Publikum bitten, nicht den Kaufpreis von Tickets für ausgefallene Veranstaltungen insbesondere freier Künstler*innen und Veranstalter*innen zurück zu fordern. Die Kulturstaatsministerin sollte dies aufgreifen und öffentlich unterstützen.

d) Ebenfalls in Zusammenhang mit den Vertragsaufhebungen ist festzuhalten: Verschiebungen von Veranstaltungen auf spätere Zeitpunkte (etwa die nächste Saison, das nächste Jahr) dürfen nicht als gleichwertige Ersatzleistung zum abgesagten Engagement betrachtet werden. Eine Verschiebung ist nicht gleichbedeutend mit dem Erhalt des wirtschaftlichen Werts des Engagements für freie Akteur*innen. Vielmehr ändert es in den meisten Fällen nichts am akuten Einnahmeverlust.

 

 

 


24. September 2019

Mechanik Sehnsucht – Kunsterzeugung und Betrachtung

 

Wie entsteht Kunst? Was treibt Künstler*innen an? Und was geschieht, wenn die künstlerische Produktion nicht von externen Beobachter*innen reflektiert und kommentiert wird, sondern von den Produzent*innen selbst?

 

Anlässlich der Veröffentlichung des Essays von Stephan Kaluza „Mechanik Sehnsucht“ veranstaltet das Landesbüro für Bildende Kunst in Kooperation mit dem Heine Haus eine öffentliche Diskussion aus dem „Maschinenraum der Kunst“. Mit:

Stephan Kaluza (Bildender Künstler, Autor)

Dieter Nuhr (Kabarettist, Bildender Künstler)

Moderation: Denis Scheck (Literaturkritiker)


Aktionen brauchen Büros

 

Anlässlich des Fachsymposiums „Das Büro – Zwischen Sweatshop und Künstleratelier“ im Kunsthaus NRW  am 5. April 2019 hielt die Kunsthistorikerin und Kritikerin Larissa Kikol einen Vortrag über die Implementierung von Kunst im besonderen Arbeitskontext des Büros. Die Gelegenheit, auf Kikols Konzept des „kulturellen Werkzeugs“ zurückzukommen.

 

 

Auf den ersten Blick ist es keine faire Gegenüberstellung: Die Büro- und die Kunstwelt. Grau steht gegen Bunt. Standard gegen Exotik. Austauschbarkeit gegen Geniekult. Oft wird gefragt: Was können Büroangestellte von Künstlern lernen? Das Klischeebild deutet auf der einen Seite engstirnige Bürokratie und sogar Depressionen, auf der anderen Seite Selbstverwirklichung und Vitalität. So ist es mittlerweile gängige Praxis, dass Unternehmen Künstler zu sich einladen, damit diese neue Impulse in Sachen Kreativität, Originalität und Leidenschaft setzen.

Doch es existiert auch die andere Seite.

Ein Büroambiente wertet auf. Nicht wenige Künstler lassen sich in solch einem Raum fotografieren, anstatt in einem farbbesudelten Atelier. Statt Pinsel und Farbeimer wählen einige lieber Tacker und Büromaterial. Statt eines schmutzigen Atelierbodens lieber einen Büroschreibtisch. Verstärkt seit der Nachkriegszeit wissen einige Künstler die geordneten, repräsentativen Bürostrukturen für sich zu inszenieren, da das Büro als Schaltfläche und Organisationszentrale mit einer Aura der Macht, der Strategie, der Aktivität und des Einfluss-Nehmens verbunden ist. Tatsächlich existieren auch in der Kunstwelt essentielle Komplexe: Die Angst als Träumer, als Weltfremder, als Politik-Idiot und als Einflussloser abgetan zu werden. Auch viele jüngere und insgeheim unsichere Künstler wünschen sich, dass selbstbewusste Büroarbeiter sie zu souveränen, agilen und potenten Verhandlungspartnern reifen lassen.

So wird der Büroraum zur künstlerischen Schaltzentrale umfunktioniert.

 

Büro statt Atelier

Eine Reihe von erfolgreichen, etablierten Künstlern hat diese Karrierezutat längst verstanden.

Aufschlussreich ist daher, wie Gerhard Richter sich in seinem Kölner Atelier von dem Fotojournalisten Dirk Gebhardt fotografieren ließ. Und zwar so ganz untypisch für einen Maler. Der Schreibtisch und die Regale hinter ihm sehen nach klassischen Büromöbeln aus. Sie repräsentieren kein originelles Design, welches Kreativität, Leichtigkeit oder Originalität versprüht, sondern scheinen selbstgezimmert, allerdings nach einer Vorlage aus einem Büro für Versicherungen. Statt Malerbedarf steht dort ein Locher griffbereit. Ordner liegen sortiert hinter ihm. Auf einem anderen Bild sieht man die offene Schreibtischschublade. Auch ihr Inhalt weist mehr auf ein gut geführtes Büro hin, als auf ein Maleratelier. Fein sortiert liegen dort Marker, Bleistifte und Radiergummis drin. Keine Spur von dem chaotischen Künstlerchaos, welches lange als das Klischeebild einer Inneneinrichtung diente, welches ein Genie beherbergte. Gerhard Richter zeigt sich hier nicht als aktiver Maler, sondern als Künstler, der seine Arbeiten schon fertig gestellt hat und sie nun von seinem Büro aus verwaltet und vermarktet. Er verkörpert seinen eigenen Geschäftsführer, ein Organisationstalent, der die Strippen von seinem Bürotisch aus zieht.

 

Gerhard Richter in seinem Atelier, 2015  Foto: Dirk Gebhardt/laif

 

Foto: Dirk Gebhardt/laif

 

Auch Martin Parr ließ sich in einer eher unaufgeregten Bürosituation portraitieren. Zumindest herrscht hier das gewisse, erwartete Chaos. Es handelt sich allerdings nicht um ein „Office-Büro“, sondern um ein Heimbüro. Die Korkpinnwand, die Holzregale, der Drucker und der zu klein erscheinende, überquellende Schreibtisch, der sicherlich einmal in vielen Haushalten als modern galt, könnten genau so gut bei seinen Nachbarn stehen. Spezifisch künstlerisch erscheint dieses Ambiente nicht. Parr inszeniert sich hier bürgerlich, fast schon etwas spießig und bricht ebenfalls mit dem klischeehaften Bildmotiv, des geniehaften, emotionalen Künstlers im Atelier.

 

Schreibtische für politische Kunst

Ein künstlerischer Bereich sticht besonders hervor, für den eine Büro- und Schreibtischsituation auch inhaltlich einen wichtigen Stellenwert erfährt: Kunst, die auf Aktion und Revolution aus ist. Auf diesem Feld erhöht sich das Büroambiente zur strategischen Schaltzentrale, von der aus die politische Arbeit im Außenraum koordiniert wird. Ein bezeichnendes Beispiel hierfür ist Joseph Beuys.

In einem Videointerview berichtet Beuys über eine Documenta-Einladung: „Dann wurde ich 1972 wieder eingeladen. Ich sagte: Schön, dass ihr mich einladet, aber ich bringe euch kein Kunstwerk mit. Ich bringe euch die Organisation für direkte Demokratie mit.“ Was er mitbrachte, war ein Büro. Das Büro für direkte Demokratie durch Volksabstimmung.

Beuys verstand es, sich viele Gesichter zu geben. Er trat als Schamane und Spiritueller auf, als uneitler Redner, der gerne lacht und Witze macht, aber eben auch als politisch arbeitender Weltveränderer, der seine Ernsthaftigkeit und seine Reichweite über intellektualisierte Büroarbeit steuerte. Die Idee des Büros gehörte für ihn zur sozialen Plastik hinzu. Außerdem vermochte sie Sicherheit zu spenden: In Verbindung mit seinen oft provokanten und für Außenstehende bizarren Auftritten in der Öffentlichkeit, erdet ihn das Büroambiente als überlegten, reflektierten, hart arbeitenden Geist. Beuys sorgte durch diese Bilder auch für ein Verständnis bei den Menschen, die eher nicht aus dem Kunstmilieu kommen und auf die das Kunstschaffen als alltäglicher Beruf rätselhaft wirkte. Beuys zeigte Arbeitssituationen, die ihnen bekannt vorkamen und die sie nachvollziehen konnten. Kaum ein anderer Künstler setzte die Idee des Büros so bejahend als effektives Werkzeug ein. Das Büro wurde Kunst.

 

Politisch arbeitende Künstler scheinen eine Affirmation zu Schreibtischen zu haben. So existiert ebenfalls von Ai Weiwei ein solches Bild, auf dem er an einem gut aufgeräumten Schreibtisch in seinem Berliner Atelier sitzt. Die elegante Büroeinheit im Gewölbe-Atelier scheint wie selbstverständlich sein zentraler Arbeitsort zu sein.

Ai Weiwei in seinem Berliner Atelier Foto: (c)Wolfgang Stahr, www.wolfgangstahr.de

 

Als Christoph Schlingensief die Partei „Chance 2000“ ins Leben rief, durfte natürlich ein Schreibtisch nicht fehlen. Der Künstler schrieb über seine Aktion: „Mit den Mitteln des Theaters in den politischen Raum zu gehen und zu versuchen, eine Fläche zu schaffen, in der die Leute stattfinden können, die im System nicht stattfinden. […] Ich glaube in vielen meiner Arbeiten habe ich versucht, Prototypen und Mechanismen unserer Gesellschaft kenntlich zu machen. Parteitage, Wahlkampfspots, Plakate, Straßenwahlkampf, Talkshow-Auftritte […]“

 

CHANCE 2000_ Christoph Schlingensief © Filmgalerie 451

 

Um all dies zu organisieren und zugleich publikumswirksam in Erscheinung zu treten, bringt der Schreibtisch genau die richtige Mischung aus Seriosität, Bürgernähe und dramaturgische Kulisse mit sich. Bei Schlingensief ist er zugleich Satire und ernst genutzter Wirkungsraum.

 

Das Büro als Aktionsort

Wenn das Büro als künstlerischer Arbeitsbereich bezogen wird, bedeutet dies, dass darin keine klassischen Werke wie Skulpturen oder Tafelbilder entstehen. Der Ort des Büros impliziert, dass von dort lediglich eine Kunst, bzw. eine Idee oder eine Aktion organisiert, bzw. geplant wird, die außerhalb des Büros, also Draußen in Erscheinung tritt. Meistens auf der Straße, die wiederum einen sozialen, politischen, kulturellen Kontext mit sich bringt.

Die Büromodule bringen erhebliche Vorteile gegenüber dem klassischen Atelier mit sich.

Eine davon ist die Verbindung nach Außen, zum „realen“ Leben. Ein Maleratelier steht für eine in sich abgeschlossene Welt, in der Kunstwerke nicht nur entstehen, sondern auch fertig gemalt, das heißt, abgeschlossen werden. Währenddessen bleibt der Künstler ist seiner Blase, an seinem nicht mobilen Rückzugsort, zu dem nur wenige Zugang haben. Das Atelier zelebriert den Moment des Abkapselns. Es erhöht das Sich-von-der-Welt-Trennen um in Introspektive zu arbeiten. Das Büro hingegen stellt das Gegenteil dar. Es ist eine Öffnung in die Außenwelt, es bedeutet Erreichbarkeit, Öffnungszeiten, eine Adresse zu haben und erwünschte Kommunikation. Es steht nicht nur für die Verbindung zu anderen Büros, sondern ganz generell nach Draußen. Eine Variante sind die flexiblen, temporären Aktionsbüros, die auf Tour gehen können. Gerade Aktionen brauchen keine Ateliers zum theoretischen Reflektieren, in denen schweres oder exklusives Künstlermaterial auf Jahre gehortet werden. Aktionen brauchen Telefone, Kopierer und Tacker. Man denke nur an die Flugblattaktionen der Studentenproteste. Für sie war der Kopierer eine effektive Waffe.

Vielleicht gibt es ja in der Zukunft Kunsthochschulen, die Lehraufträge an erstklassige Top-Sekretärinnen vergeben.

Dr. Larissa Kikol
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21. März 2019

Von bleicher Sorge hart bedrängt: Über die Lage der bildenden Künstler*innen im Alter

 

Altersarmut wird zunehmend zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion und betrifft fast alle gesellschaftlichen Schichten. Dabei sind gerade Künstler*innen an dieser späten Form des Präkariats exponiert. Existierende Förderprogramme in der Bildenden Kunst konzentrieren sich meisten auf dem Karriereanfang; strukturelle Maßnahmen für ältere Produzent*innen, die nicht am Kunstmarkt teilnehmen, sind nicht vorgesehen. Durch ein Symposium im Stadtmuseum Düsseldorf Anfang Februar 2019 machte die AG „Künstlerschaft gegen Altersarmut“ vom Rat der Künste in Zusammenarbeit mit dem LaB K und dem Verein der Düsseldorfer Künstler 1844 auf das Phänomen aufmerksam.

Hier geht es zur kurzen Filmdoku über das Symposium. Und weiter unten zum Vortrag von Hanne Schweitzer, aus dem Büro gegen Altersdiskriminisierung.

 

 

 

„Oft trifft man wen, der Bilder malt, viiiel seltener wen, der sie bezahlt.“ (Wilhelm Busch). Dass die meisten Künstler*innen zur Sicherung von Existenz und Autonomie auf andere Einnahmequellen als ihrer Produktion angewiesen sind, ist längst bekannt. Dazu gehören Jobs, Stipendien, Lehrtätigkeiten, private Zuwendungen, Unterstützung durch Ämter oder Auszahlungen der Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst. Wie sieht es genauer mit ihren Einkommen aus? 2016 veröffentlichte der Bundesverband bildender Künstler seine sechste qualitative Umfrage zur finanziellen Situation der Künstlerschaft (Rücklauf: 1.300 Antworten). Daraus geht hervor, dass 12,5 Prozent im Jahr 2015 keinen einzigen Cent mit ihrer künstlerischen Arbeit verdient haben. Und von denen, die Einnahmen hatten, setzen 81,1 Prozent nicht mehr als 20.000 Euro um. Dazu muss man wissen: Das Jahresbruttoeinkommen einer Einzelhandelskauffrau in einem tarifungebundenen Betrieb liegt bei 28.000 Euro. Also 8.000 Euro mehr.

 

 

 

Was sagt die Künstlersozialkasse dazu? Interessanterweise führt sie die bildende Künstlerschaft mit den Designern in einem Bereich zusammen. Dagegen ist ja erstmal nichts einzuwenden. Irgendwo müssen die freischaffenden Designer, die früher meist fest angestellt gearbeitet haben, ja renten- und krankenversichert sein. Dass aber nun in sämtliche Tabellen, die von der KSK mit der Überschrift „Bildende Kunst“ veröffentlicht werden, auch die Daten der Designer*innen einfließen, ist doch irreführend. Diese Suggestion von Wirklichkeitsvermittlung sollte man im Kopf haben, wenn man die Tabelle der KSK betrachtet.

 

Wie in der Tabelle ersichtlich, gibt es kein Jahreseinkommen unter 10.000 Euro; am besten verdienen die 40 – 50Jährigen. Pushen also die Designer*innen die Einkommen der Künstlerschaft? Oder senken die Künstler*innen den Schnitt? Die Frage kann ich zwar stellen, aber ich kann sie nicht beantworten. Ich habe die KSK deshalb schriftlich gebeten, die Daten von Künstlern und Designern doch in Zukunft getrennt auszuweisen. Damit bin ich beim europäischen Zentrum für Wirtschaftsförderung angelangt. Das Institut schreibt für die Bundesregierung jedes Jahr einen Bericht zur „Kultur- und Kreativwirtschaft“[1], ein relativ neuer Wirtschaftszweig, der aus 12 verschiedenen Absatzmärkten zusammengesetzt wurde.

 

 

 

2017 haben alle 12 Märkte zusammen 158,6 Milliarden Euro umgesetzt. Er hat aber trotzdem Mit einen Umsatz von 2,1 Milliarden Euro, ist der Kunstmarkt der Kleinste. An diesem merkantilen Erfolg waren vier Teilmärkte beteiligt. Die selbständigen bildenden Künstler*innen, die Galerien, die Museumsshops und die Antiquitätenhändler. Der größte Batzen der Einnahmen kam von den Künstler*innen. Sie haben mit dem Verkauf ihrer Werke, die ja Wirtschaftsgüter sind, 846 Millionen Euro umgesetzt. Daran beteiligt waren 33.000 Künstler und Künstlerinnen. (25.600 pro Künstler). Von denen gelten aber laut Bericht mehr als zwei Drittel (24.000) als Miniselbständige. Und Miniselbständige, das sind bildende Künstler*innen mit einem Jahreseinkommen von weniger als 17.500 Euro.

 

Den zweitgrößten Batzen haben die Kunstverwerter beigesteuert. 1.300 Galerien haben 656 Millionen Euro umgesetzt. Dividiert man diese beiden Zahlen, ergibt das pro Kunstverwerter einen Durchschnitt von mehr als einer halben Million Euro (504.600Euro). Die Künstler*innen waren schon immer die Reichtumsbeschaffer des Kunsthandels.

 

Die aktuellsten Zahlen zur finanziellen Situation der Künstlerschaft stammen aus der 3. Umfrage, die das Berliner Institut für Strategieentwicklung[1]. Doch selbst in der Stadt mit der bundesweit besten Förderstruktur gilt für die Künstler*innen gilt: Von bleichen Sorgen hart bedrängt. Man schätzt, dass in Berlin 8.000 bildende Künstler*innen leben. Von denen haben sich 1.745 an der Umfrage beteiligt. Die Altersspanne reichte von 19 bis 89 Jahren. Die meisten waren aber unter 50. Im Schnitt verdienen Berliner Künstler*innen ca. 9.600 Euro im Jahr mit ihrer Produktion (bei den Künstlerinnen sind es weniger als 5.000 Euro). Für 80% ist die künstlerische Arbeit ein Verlustgeschäft, das mit anderen Einnahmen finanziert werden muss. Nur jede zehnte Künstler*in bezieht ihr gesamtes Jahreseinkommen aus der künstlerischen Arbeit, 13% der Männer und 8% der Frauen. Nur 9,5 Prozent geben an, ihren Lebensunterhalt jetzt oder in Zukunft mit den Einnahmen aus der künstlerischen Arbeit decken zu können. Hat das jahrhundertelange Reden von der „brotlosen Kunst“ die Künstler konditioniert? Brauchen sie Schulungen, um Blockaden abzubauen und angemessene Bezahlung durchzusetzen? Haben sich an der Berliner Umfrage keine gut verdienenden Künstler*innen beteiligt? Wieso geben dann aber 10 Prozent an, eine private Altersvorsorge zu bezahlen?

 

Drei Schlüsse lassen sich aus dem Bisherigen aber ziehen:

  1. Es gibt nur wenige Künstler*innen mit gesichertem Einkommen.
  2. Künstler*innen mit einer akademischen Ausbildung reichen an die Einkommen anderer selbstständiger Akademiker*innen meist nur im Traum heran. Ingenieur*innen, Ärzt*innen oder Anwälte berechnen ihre Arbeit anhand von Honorarordnungen und die meisten verdienen zwischen auf 50- bis 100.000 Euro im Jahr.
  3. Das Gros der bildenden Künstlerschaft verdient weniger, als der rentenversicherte Durchschnittsmensch. Aber dessen Bruttoeinkommen von 35.000 Euro[2] im Jahr reicht ja auch nicht, um gut vom eigenen Fett zehren zu können.

 

Damit bin ich bei den Renten. Hierzulande gilt ja die Faustregel: Je weniger Einkommen, je weniger Rente. Heinrich Heine hat das so auf den Punkt gebracht: „Die Armut hat den großen Fehler, dass sie da, wo sie sich einmal hingesetzt hat, zu lange sitzen bleibt. Man kann sie nur schwer loswerden“.[3] In Kanada ist das anders. Das staatliche Alterssicherungsprogramm Old Age Security Program (OAS)[4] ist nicht davon abhängig, ob man früher gearbeitet hat. Die Höhe richtet sich nach der Anzahl der Jahre, die man in Kanada gelebt hat. Der Höchstbetrag liegt bei 600 CAD, und die erhält, wer seit 40 Jahren im Land ist. Wer damit nicht auskommt, kann eine Einkommensergänzung (Guaranteed Income Supplement) beantragen. Die ist auch nicht an frühere Berufstätigkeit gekoppelt. Hier liegt der Höchstsatz bei 500 CAD. Macht zusammen 1.100 CAD. Da schlucken hiesige Rentner*innen.

 

Was sagt nun die Künstlersozialkasse zum Thema Alterseinkünfte? Eine entsprechende Anfrage wird kurz und knapp beantwortet mit den Worten: „Da wir nur die Einzugsstelle sind, können wir darüber keine Auskünfte erteilen.“ Fehlanzeige genauso bei der Deutschen Rentenversicherung: „Die angefragte Statistik wird von uns leider nicht geführt“, heißt es. Die KSK gibt es seit 1983. Wer also 1983 angefangen hat, dort Beiträge für seine Rente einzuzahlen, kommt bis heute nur auf 36 Jahre. Wenn das Rentenalter aber jetzt schon vor der Tür steht, was dann? Dann haben die älteren Künstler*innen, wie die SPD-Vorsitzende Nahles bei anderer Gelegenheit sagte: „die Arschkarte gezogen“[5].

 

Wieso? Auf die Frage, ob man Beiträge nachzahlen oder zusätzlich einzahlen kann, um auf 45 Jahre zu kommen, sagt die Rentenversicherung: „Uns sind keine Möglichkeiten bekannt, die speziell für Künstler*innen die Möglichkeit der Nachzahlung von Beiträgen eröffnen.“ Wenn man wollte, ließe sich das schnell ändern und es wäre ein nettes kleines Betätigungsfeld für ältere, kunstaffine Bundespolitiker. Überhaupt gehen ja Politik und Kultur gut zusammen in der letzten Zeit. Für Michele Müntefering wurde eigens die Stelle einer Staatssekretärin für Internationale Kulturpolitik im Auswärtigen Amt geschaffen. Und mit Ausnahme von AFD und FDP finden sich in den Programmen der Parteien zur letzten Bundestagswahl immerhin ein, zwei Sätze zur ökonomischen Situation der Künstlerschaft.

 

„Wir stärken die Lebens- und Arbeitsbedingungen für künstlerisches Schaffen“, sagt die CDU. Die SPD macht sich für Mindestvergütungen und Ausstellungsvergütungen stark, die Linken für Mindesthonorare und Ausstellungshonorare, die Grünen sind für Mindestlöhne und Honoraruntergrenzen. Der Vorsitzende der CDU-Senioren-Union, Professor Dr. Wulff, führte schon 2014 zum Thema folgendes aus: „Der arme Dachstuben-Poet von Carl Spitzweg, das ist heute der prekäre Ich-Unternehmer in der Kulturbranche, die wie kaum eine andere von Altersarmut betroffen ist. “ Altersarmut: In den Plenarprotokollen des Deutschen Bundestags muss man bis 1984 zurückgehen, bevor das Wort erstmals auftaucht. Im veröffentlichten Sprachgebrauch hat es seitdem eine beachtliche Karriere gemacht. Wie Plastik eignet es sich nämlich für jeden Zweck und jeden Anlass. Es ist so herrlich neutral und enthält nicht den kleinsten Hinweis auf die Verursacher der Armut und auf die Folgen, die es hat, wenn sich Leute, die mehr als 45 Jahre gearbeitet haben, den nötigsten Lebensunterhalt nicht ohne Hilfe beschaffen können.

 

Von den Künstler*innen, die sich an der Umfrage des Bundesverbands BBK 2016[6] beteiligt haben, war ein Drittel im Rentenalter. Das sind ca. 430 Personen. Die Auskünfte, die sie über die Höhe ihrer Renten gegeben haben, führen zu diesen nicht repräsentativen Durchschnittswerten: Die Hälfte der Frauen (51,1 %) hat Renteneinkommen von bis zu 800 Euro. Bei den Männern sind es 10 Prozent weniger. Bei den Männern stammten die Renten zu 61 Prozent aus künstlerischer Arbeit, bei den Frauen waren es nur 48 Prozent.

 

Die schon erwähnte Umfrage des Berliner Instituts für Strategieentwicklung 2018 hat, auch weil das Setting ganz anders war, zu anderen Ergebnissen geführt. Demnach erwartet fast ein Viertel (23%) der Befragten im Alter zusätzliche Einnahmen aus Erbe, Vermietung oder Kapitalerträgen. Wie kann es dann aber sein, dass 90% der Umfrageteilnehmer*innen sagen, dass sie später nicht von ihrer Rente leben können? Die durchschnittliche Rentenerwartung der Künstlerschaft liegt bei 357 Euro, wobei über die Hälfte aller Produzenten weniger als 280 Euro erwartet. Ein alarmierender Wert. Alle anderen gehen von einer Rentenerwartung von ca. 357 Euro aus. Zum Vergleich: Der Hartz IV – Satz liegt bei 424 Euro, die Grundsicherung bei 416 Euro. Und 7.5 Millionen Minijobber bekommen 450 Euro.

 

Zu dieser faktischen Unterbezahlung kommt, noch hinzu dass älteren Künstler*innen der Zugang zu Stipendien, Studienaufenthalte oder Preisen durch Altersgrenzen verwehrt ist. Das Büro gegen Altersdiskriminierung hat seit 2006 solche Altersgrenzen dokumentiert. So durfte schon damals nicht älter als 35 sein, wer für eine Bewerbung um den Ausstellungs- und Katalogförderpreis der Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung vorgeschlagen werden wollte. Andere Ausschreibungen richten sich an „Nachwuchskünstler*innen“, „junge Absolvent*innen“ oder an solche, die „junge Kunst“ machen, was auch immer das sein mag. Mal darf man maximal 40 sein, mal 30. Nur über 50, das bitte nicht. Die Kölner Ausstellungsreihe „Update Cologne“, bei der Künstler*innen über 50 ausstellen, ist da eine rühmliche Ausnahme. Altersdiskriminierend  tun sich private wie öffentliche Stiftungen hervor, auch das Goetheinstitut, der DAAD, Landesministerien, der Landschaftsverband Rheinland, die Werkstadt Altena, der Landesverband Lippe, die Berliner Akademie der Künste und das deutsche Studienzentrum in Venedig.

 

Was also tun, bildende Künstler*innen? Selbstmitleid ist den meisten Kunstschaffenden fremd. Vielleicht ist das ja ein Grund dafür, dass Künstler*innen auch dann nicht aufmucken, wenn sie 30 Jahre auf der gleichen Matratze schlafen oder jeden Cent dreimal umdrehen müssen, bevor sie sich ein neues Objektiv leisten können. Wer kein Erbe im Rücken oder einen gut verdienenden Partner an der Seite hat, dem ist die Abwesenheit von Geld so vertraut, wie ein Leben ohne Rücklagen und Sterbeversicherung. Wie soll man aber im Alter eine vernünftige Brille oder die Tropfen für die Augen bezahlen, die die Kasse nicht übernimmt? Und wie macht man die Hängung, wenn auf der Leiter der Schwindel kommt? Was soll werden, wenn die Kündigung für die Wohnung oder das Atelier im Briefkasten liegt? Wer kümmert sich, wenn Pflege nötig wird?

 

Bildende Künstler*innen sind nicht einfach zu organisieren. Aber vielleicht ändert sich das gerade. Anfang Februar dieses Jahres haben sich zum Beispiel darstellende Künstler*innen in einem Kölner Theater zu einem internationalen Kongress getroffen. Themen waren ihre Arbeitsbedingungen und Honorare, aber auch der Druck, der von den Rechten z.B. auf die Spielplangestaltung ausgeübt wird. Bei den bildenden Künstler*innen bewegt sich auch etwas. Zum einen wird die Empörung über die Zensur von Ausstellungen lauter.[7] Zum anderen wurde letztes Jahr in Düsseldorf das Manifest gegen die Altersarmut veröffentlicht. Der Rat der Künste wurde etabliert. Diese Tagung wurde organisiert. Nun soll ein Fonds für notleidende Künstler gegründet werden. Gute Idee, nur mit der City Tax, also einer Sonderabgabe für die Hotelübernachtung, wie die Rheinische Post berichtet hat, funktioniert das nicht. Denn es sind nicht die Bürger*innen, die über die Verwendung von Steuern entscheiden. Staat, Stadt oder Land kann damit machen, was er will. Erfreulich ist aber auch, dass sowohl Privatleute als auch Vereine und Institutionen aus Düsseldorf die „Berliner Erklärung der Vielen“ gegen die ReNationalisierung der Kunst unterstützen.

 

Das ist, nach vielen Jahren des Dornröschenschlafs, schon eine ganz Menge. Und es bedeutet: Freischwebende Energien können gebündelt werden. Selbständige Künstler*innen, die sich jahrzehntelang als Einzelkämpfer auf einem gnadenlosen Markt behaupten müssen, können sich zusammentun, Überlegungen anstellen, Forderungen formulieren, Verbündete suchen. Die Konjunktur schwächelt. Das Säbelrasseln wird lauter. Der wirtschaftliche Druck auf die Einzelnen nimmt zu. Wir haben die Wahl: Entweder verhungert demnächst jeder allein in seiner Dachstube oder wir erinnern uns an Heinrich Heines erste Zeile aus seiner ersten Doktrin: „Schlage die Trommel und fürchte dich nicht“

 

[1] http://www.ifse.de/artikel-und-studien/einzelansicht/article/studio-berlin-iii.html 2.2.2019
[2] Abgerufen am 6.2.2019
[3] Heinrich Heine Lutezia, 1. Buch. Gesamtausgabe, Reclam Leipzig
[4] https://www.canada.ca/en/services/benefits/publicpensions/cpp/old-age-security.html2.2.2019
[5] Abgerufen am 3.2.2019
[6] Abgerufen am 29.1.2019
[7] Abgerufen am 3.2.2019

 

Hanne Schweitzer
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19. Februar 2019

Wem gehört die Geschichte?
Die Grenzen von Ethik und Ästhetik heute.

 

Nehmen wir eine Vase. Wir erhalten die Information, dass diese Vase fair produziert wurde, in Miniauflage, in einem mikrokreditfinanzierten Workshop für misshandelte Frauen. Ist die Vase dann schöner, als wenn wir die Information nicht bekommen hätten? Nein. Aber wir nehmen sie anders wahr, weil wir auf einmal schöner sind. Weil unsere Kaufentscheidung richtig war und gut und unterstützend. Damit sind wir geeigneter, die ‚gute‘ Vase als ‚gut‘ zu erkennen, weil wir selbst ‚besser‘ geworden sind.

 

Nehmen wir an, wir schreiben einen Roman. In dem Roman geht es um eine reale Person der deutschen Geschichte in den unrühmlichen Jahren der NS-Zeit. Bin ich schlechter, wenn ich diesen Roman schreibe? Als Liebesgeschichte? Mit erzählerischen Freiheiten? Oder bin ich schlechter, wenn ich den Roman schlecht schreibe? Also schlechter, als würde ich irgendeinen anderen historischen Stoff schlecht schreiben?


Takis Würger, Stella. Cover, München 2019. © Carl Hanser Verlag, München.

 

Diese Fragen stellt Johannes Franzen im aktuellen Merkur. Er bezieht sich damit auf Takis Würgers Roman „Stella“ (Abb. 1), in dem es um Stella Goldschlag geht, eine jüdische Gestapo-Kollaborateurin. Er hat dieses Buch mit Dokumenten gefüttert und reale Akten eingepflegt, Zeugnisse, die als letzte Äußerungen der Opfer gedeutet werden können. Franzen schreibt über ein Buch, das momentan wie kein zweites in den Feuilletons der Republik verrissen und zum „Symbol einer Branche (wird), die jeden ethischen oder ästhetischen Maßstab verloren zu haben scheint.“ (1)

Die Gründe, die er für den „Furor der Kritik“, der es sogar in die BILD-Zeitung geschafft hat, nennt, sind auf verschiedene Weise sehr aufschlussreich.

 

„Wer darf welche Geschichte wie erzählen?“

In dieser Frage kulminiert Franzen einige Kritikpunkte. Auch wenn die fiktionale Freiheit erst mal alles darf, muss sie sich doch – wenn sie sich wie dieser Roman historischer Realia bedient – auch nichtliterarischen Ansprüchen nach Angemessenheit und Vertreterschaft oder generell dem Umgang mit Quellen stellen. Franzen schreibt: „Literarische Texte stehen fast immer in einem engen dialogischen Verhältnis zu einer gegenwärtigen oder historischen Wirklichkeit“. Interessant wird dieser Wirklichkeitsbezug, wenn man die Medien wechselt. In der bildenden Kunst ist seit dem ‚Fall‘ der Malerin Dana Schutz, die in ihrem Gemälde „Open Casket“ Bezug zu einer Fotografie von Emmett Till herstellt, der Vorwurf der ‚cultural appropriation‘ eingeführt worden. Gemeint ist die Aneignung und Kommerzialisierung schwarzer und indigenen Kultur durch die oftmals weiße Dominanzkultur. Das können Dreadlocks bei weißen Models oder Bumerangs von Chanel sein – oder aber das Bild eines 14-jähriges Opfers rassistischer Gewalt. Gemalt von einer Weißen. Hat sich Takis Würger der ‚cultural appropriation‘ schuldig gemacht, hat er „Everything But The Burden“ (2) übernommen? Ist, weiter gefragt, ‚cultural appropriation‘ nur ein Hautfarbenphänomen? Und wenn nicht, darf man vom Holocaust als einer ‚Kultur‘ sprechen, die angeeignet wird?

Die Diskurse jedenfalls sind ähnlich. Die Künstlerin Hannah Black war die lauteste öffentliche Stimme gegen das Gemälde von Schutz. Sie wird mit den Worten zitiert:

 

„Jene nicht-schwarzen Künstler, denen aufrichtig daran gelegen ist, die schändliche Form weißer Gewalt hervorzuheben, sollten zuerst davon ablassen, schwarzen Schmerz als Rohmaterial zu benutzen. Das Thema gehört Schutz nicht. Weiße Redefreiheit und weiße Kunstfreiheit sind darauf gebaut, anderen diese Freiheiten zu verwehren; sie sind kein Naturrecht.“ (3)

Antonia Baum kritisiert in der ZEIT, dass Würger glaubt, sich „alles nehmen und darüber verfügen zu können“. Sie spricht von Aneignung und Verfügung, ganz ähnlich wie Hannah Black. Ist Würger als Nachgeborener also Teil einer ‚Dominanzkultur‘? Auf den ersten Seiten des Romans wird klar gemacht, dass Takis Würger einen Urgroßvater hat, der 1941 bei der Aktion T4 vergast wurde. Seine genealogische Betroffenheit ist somit vorausgesetzt. Er darf erzählen. Darf er aber SO erzählen?

 

Es gab die Debatte bei Lanzmann und Spielberg und ihren jeweiligen Holocaust-Filmen: Sprachebenen, Zugänge werden hier wie dort thematisiert. Wobei Bildkünste immer höheren Ansprüchen an ‚das Dokumentarische‘ genügen mussten als Wortkünste. Aber dazu später mehr. Wenn es um Kunst und Aneignung geht, ist es wichtig zu betonen, dass keine Kunst, aber ebenfalls keine Kultur autonom ist, auch wenn sie es gerne von sich behaupten: Autonomie ist das Reinheitsgebot, das nicht existiert. Kunstintern und Kunstextern lassen sich nicht trennen. Kulturen – so hat die Wissenschaft längst belegt – sind ebenfalls nichts, was sich eindeutig zuschreiben ließe. (4) Und würde man das wirklich wollen? Letztendlich wiederholt jeder Essentialismus von Kultur die Unterstellung, „schwarze Menschen würden einzig und allein aufgrund ihrer Hautfarbe bestimmte Eigenschaften miteinander teilen“, wie Jens Kastner in seinem Essay deutlich macht.

 

Aber wie wird denn nun erzählt?

Es ist der gleiche Realitätshiatus wie in der Fotografie: Weil sie als kulturelle und historische Praxis ‚Dagewesenes‘ abbildet, fällt es ihr schwerer als anderen Medien, sich von der Realität zu verabschieden. Dem Betrachter zu sagen: Es ist zwar ein Foto, aber glaubt ihm nicht! Als ‚Dagewesener‘ beglaubigt auch der Fotograf das Abgebildete und ist als Zeuge somit verbürgt. Anders als der Autor. Daher gibt es in der Reportagefotografie seit längerem den Diskurs, ob z.B. westliche Medien und Nachrichtenagenturen westliche Fotografen in den globalen Süden schicken sollten, oder ob man nicht verstärkt mit lokalen Fotografen zusammenarbeiten sollte und wenn ja, wie sie behandelt werden müssen. Man wendet sich gegen die „Ökonomie des Leidens“, Formen der kulturellen Aneignung, aber auch – und jetzt kommen wir zurück zur aktuellen Debatte – gegen „Storys, die sich verkaufen“ (5). Storytelling ist nämlich kein Exklusivmerkmal des SPIEGELS, sondern existiert auch als Anforderung in der Reportagefotografie.

 

Würger ist mit Class Relotius verglichen worden. Man weiß nicht genau, ob aufgrund seiner inhaltlichen oder stilistischen Merkmale. Allerdings ist beides kaum voneinander zu trennen. Obwohl sie unterschiedlichen Systemen angehören, schreiben sie knappe, parataktische Dialogprosa zu angenommen realen Inhalten, peitschen Lesetempi hoch und reduzieren Komplexität. Als Relotius aufflog, stand in der Stellungnahme des Spiegels, er habe es vermocht, „Gegenwart einmal auf ein lesbares Format“ (6) zu komprimieren. Takis Würger vermag das gleiche mit der Vergangenheit.

Die taz kritisiert, dass er das ‚Ungeheuerliche‘ seiner Geschichte als „einziges Wiedererkennen“ inszeniert. Das alles bekannt erscheint: „Die „Jatz“-Keller in Berlin, die Bombennächte, die zwielichtigen SS-Figuren, die armen Juden, die munteren Folterer, das alles hat man im Zweifel schon im Fernsehen gesehen.“ (7) Allerdings glaube ich nicht ausschließlich an die „Entlastungsfunktion“, die Dirk Knipphals dem Erkennen unterstellt. Es ist auch das Erschrecken der eigenen Teilhabe.

 

Denn: Es geht um Zeit. Takis Würger hat, wie oft betont wurde, „flott“ (8) geschrieben, „etwas zum Verschlingen“ (9). Ein Pageturner reflektiert nicht. Er treibt die Handlung voran, ist in ihr, und du auch, er schiebt dich vor ihr her, tritt nicht zurück. Er bietet dem Leser keine Möglichkeit, Distanz zu wahren, er vereinnahmt ihn. Und damit auch den Stoff.

Das ist die pikante Selbstbezichtigung, die aus den Rezensionen spricht. Es geht nicht nur darum, was Würger gemacht hat, sondern auch darum, was er mit dem Leser, dem Rezensenten gemacht hat. Wenn Dirk Knipphals empört über „Lektüreporn“ (10) spricht, dann auch, weil er stilistisch gedrängt wurde, diesen Porno zu lesen.

 

Dokutainment?

Fabian Wolff beschreibt in seiner Rezension in der SZ das Buch als „ein einziges sic!“. Sic! schreibt man hinter Zitate, in denen man Rechtschreibfehler und andere Ungeheuerlichkeiten übernimmt, um den Fehler zurückzudatieren. Und damit kommen wir bereits zu Pudels Kern: Wolff wendet sich vor allem gegen das Dokufiktionale in dem Buch. Würger bedient sich nämlich nicht nur an der historischen Figur, er bedient sich auch an historischen Dokumenten und baut Akten des Sowjetmilitärtribunals ein, in denen das Schicksal der Opfer dargelegt wird.

 

Alfredo Jaar, Real Pictures/Emmanuel, 1995, Collection M HKA, Antwerp. © M HKA.

 

Realitätseffekte sind in den unterschiedlichsten Medien unterschiedlich stark vorhanden. Sie zu untersuchen, ist unabdingbar, auch wenn man droht, der blinde Fleck des eigenen Strebens zu werden. Darum kehren wir noch mal zur Fotografie zurück. Grob kann man dort drei Ansätze an Dokumentarfotografie unterscheiden (11). Die ‚straight photography‘, die versucht, möglichst neutral verschiedene Aspekte unaufgeregt und multiperspektivisch zu beleuchten, aber selbst keine Stellung bezieht. Positive werden nicht manipuliert und man verwendet den ‚natürlichen’ Tonwertreichtum, sowie Schärfe und Licht. Die ‚subjektive‘ Dokumentarfotografie nach dem 2. WK nimmt sich größere Freiheiten. Hier ist der eigene Blick, die eigene Haltung wichtiger Ausgangspunkt. John Szarkowski hat einige dieser Fotografen in der folgenreichen Ausstellung ‚New Documents‘ (1967) im MoMA gewürdigt. Diese Haltung legitimiert der Fotograf durch Zeugenschaft, er ist ‚betroffen‘, ‚dabei‘ und seine Fotografien mögen Ausschnitte, aber relevante Zeugnisse dieser Augenzeugenschaft sein. Diese Ansätze werden seit den 70er Jahren durch Vertreter des ‚Postdocumentary‘ kritisiert. Einer ihrer Vertreter ist Alfredo Jaar. Seine Arbeit „Real Pictures“ (1995) besteht aus Schachteln mit Beschreibungen (Abb. 2). In den Schachteln sind Fotografien von dem Völkermord in Ruanda, die aber nicht sichtbar sind, sondern ‚nur‘ beschrieben werden. Wenn Jaar Beschreibungen wählt, um seine Bilder zu ‚entschärfen‘, nutzt Würger eine andere Textsorte. Er beschreibt nicht, er erzählt; suggestiv in den gleichen Kategorien des Kitschs, die man dem World Press Photo seit Jahren vorwirft (12): Einfachheit in Komposition und Emotion verdrängen Kontexte und präferieren Affekte. Dramatisierungen und Rückgriffe auf ikonografische Muster interpolieren Sinn und Bedeutsamkeit.

 

Die Literatur führt einen Diskurs, der in der Fotografie seit langem lebendig ist. Postdokumentarische Ansätze wollen dreierlei: eine Autonomie der Künstler, der gezeigten Objekte und der Rezipienten. Eine solche Autonomie kann den Lesern nur durch eine Umgebung angeboten werden, wo nicht vorab differenziert, kategorisiert und beurteilt wird. Wo das Gefühl oder die Erkenntnis schon vorgegeben sind, wo Mitgefühl eingekauft oder ein bestimmter politischer Plan umgesetzt werden soll. Der Leser soll die gezeigte Kunst nicht länger konsumieren können, sondern muss sich selbst auf eine Form der Wahrheitssuche begeben (13). Und diese Autonomie lässt die Stilistik Würgers nicht zu. Hier berühren sich Ethik und Ästhetik. Der Autor darf natürlich alles. Der Rezipient aber auch. Alles, außer den Autor in seinen Äußerungen zensieren. Das gilt für Dana Schutz wie für Takis Würger und seine Verleger. Oder, mit Remigius Bunia ausgedrückt: „Das Recht steht vor dem Problem, dass Kunstfreiheit auch bedeutet, Kunst nicht rechtlich definieren zu können.“

 

Kann eine ‚schöne‘ Geschichte eine ‚wahre‘ Geschichte sein? Ich glaube nicht. Nicht ohne Grund mussten Wissenschaften im 19. Jahrhundert die strikte Trennung von Ethik und Ästhetik behaupten, um als Wissenschaft übersubjektiv Geltung beanspruchen zu können (14). Form und Inhalt sind nichts, was sich separat verhandeln ließe. Denn: Genauigkeit ist oft unschön. Wissenschaft ist oft unschön. Sie hat lange Sätze, Fußnoten, Adverbial- und Konjunktivkonstruktionen, die versuchen, für Genauigkeit im Ausdruck zu sorgen und nicht zu vergessen Fremdwörter. Wörter, die eine Fachwissenschaft gebildet hat, weil es den Begriff in der Alltagskommunikation nicht gab. Nicht schön, aber notwendig. Schönheit verlangt man nicht von Wissenschaft. Genauigkeit schon.

 

Dr. Anja Schürmann

anja.schuermann@uni-duesseldorf.de

 

(1) Vgl. https://www.sueddeutsche.de/kultur/takis-wuerger-stella-goldschlag-rezension-buchkritik-1.4282968-2, zuletzt besucht: 28.01.2019.

(2) So der Buchtitel einer Aufsatzsammlung, die 2003 vom US-amerikanischen Kulturtheoretiker Greg Tate herausgegeben wurde. Sie beschäftigt sich mit schwarzer Popkultur und ihr Untertitel macht das Thema deutlich: „What White People Are Taking From Black Culture.“

(3) Zitiert n. https://www.deutschlandfunk.de/ueber-kunst-zensur-und-zerstoerung-das-bild-muss-weg.1184.de.html?dram:article\_id=394153, zuletzt besucht: 22.01.2019

(4) Vgl. zur Hybridisierung von Kultur z.B. Néstor García Canclini, Hybrid Cultures. Strategies for Entering and Leaving Modernity, Minneapolis 1995.

(5) Shahidul Alam, The Majority World looks back, in: New Internationalist, August 2007, S. 4–9. Zitiert und übersetzt nach: Museum Folkwang und Fotomuseum Winterthur (Hg.), Manifeste!: Eine andere Geschichte der Fotografie, Ausst. Kat. Essen/Winterthur, Göttingen 2014, S. 342–349. Link: https://newint.org/features/2007/08/01/keynote-photography zuletzt besucht: 24.01.2019.

(6) http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/fall-claas-relotius-spiegel-legt-betrug-im-eigenen-haus-offen-a-1244579.html zuletzt besucht: 26.01.2019.

(7) http://www.taz.de/!5564017/ zuletzt besucht: 26.01.2019.

(8) Vgl. https://www.deutschlandfunk.de/takis-wuerger-stella-eine-nazischnurre-mit-fertigfiguren.700.de.html?dram:article\_id=437969 zuletzt besucht: 26.01.2019. Die Ausgangsbedeutung von „flott“ ist „obenauf schwimmend“. Vgl. https://www.dwds.de/wb/flott#et-1 zuletzt besucht: 26.01.2019.

(9) https://www.tagesspiegel.de/kultur/die-kritik-an-takis-wuergers-roman-stella-furor-fakten-fiktion/23865194.html zuletzt besucht: 26.01.2019.

(10) http://www.taz.de/!5564017/ zuletzt besucht: 26.01.2019.

(11) Zur Vertiefung empfehle ich die Forschungen von Abigail Solomon-Godeau. Z.B.; Dies., Wer spricht so? Einige Fragen zur Dokumentarfotografie, in: Herta Wolf (Hg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt a. Main 2003, S. 53–74.

(12) Vgl. z.B. Marta Zarzycka, Gendered Tropes in War Photography: Mothers, Mourners, Soldiers, New York 2016.

(13) Vgl. Ine Gevers, Images that demand consummation. Postdocumentary photography, art and ethics, in: Frits Gierstberg, Maartje van den Heuvel, Hans Scholten u.a. (Hg.), Documentary now! Contemporary strategies in photography, film and the visual arts, Rotterdam 2005, S. 82–99.

(14) Weiterführend: Anja Schürmann, Begriffliches Sehen. Beschreibung als kunsthistorisches Medium im 19. Jahrhundert, Berlin/Boston 2018.

Anja Schürmann
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