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29. Januar 2019

Kunst im öffentlichen Raum muss neu gedacht werden!

 

Das angebliche Versprechen nach mehr Teilhabe und Demokratie durch einer Kunst, die das Museum verlässt und den öffentlichen Raum erobert, ist trügerisch – und für die Kunst selbst gefährlich.

 

Steht ein Kunstwerk nicht in einer Museumshalle, sondern im öffentlichen Raum, dann glauben einige, sie hätten den Deckel einer Dose Zauberpulver geöffnet. Oder als hätten sie einen Tiger endlich aus seinem Käfig gelassen, so dass er hungrig in die Freiheit rennt, aber anstatt auf Beutejagd zu gehen, bringt er Anwohner und Passanten zusammen, schafft er soziale Nähe, Inklusion und Kunstverständnis. Die Versprechungen von Kunst im öffentlichen Raum gleichen denen eines sozialpädagogischen Wundermittels mit kunstaffinen Nebenwirkungen.

 

Wie fast alle Großstädte, wirbt auch die Stadt München mit ihrer Unterstützung für Kunst im öffentlichen Raum. So heißt es auf ihrer Homepage: „Dahinter steht das Bewusstsein, dass Kunst und Kreativität wichtige Elemente des urbanen Lebens sind, den Stadtraum positiv prägen können und zur Lebensqualität beitragen.“ Die Wohngenossenschaft Saga aus Hamburg schreibt über ihr Engagement über Kunst im Außenraum: „Kunst bringt Menschen zusammen, fördert die Kommunikation und belebt Stadtteile auf besondere Weise“[. Die Zeit zitierte aus den Statuten der Saga zusätzlich folgende Ziele: „die Förderung eines niedrigschwelligen Zugangs von Stadtteilbewohnern zur Kunst sowie einer positiven Identifikation mit ihrem Stadtteil.“[ Anja Hajduk, Senatorin für Stadtentwicklung und Umwelt resümierte: „Kunst im öffentlichen Raum ist Kunst für alle.“[

Kunst für alle?!

Dass Kunst in diesem Ausmaß als Problemlöser verkauft wird, stammt nicht zuletzt aus falschen Schlussfolgerungen der 68er Aufstände. Die Forderungen nach mehr Authentizität, Kreativität und antiautoritären Arbeits- und Gesellschaftsstrukturen sowie der Drang nach mehr Teilhabe und Mitbestimmung statt Gehorsam und Passivität zählen als starke Impulsgeber in der wütenden Bevölkerung. Gemeint waren in erster Linie die Innen- und Außenpolitik, die Emanzipation, der Umweltschutz, die Arbeitsbedingungen, die Hierarchien in Berufs- und Familienleben sowie der industrielle Kapitalismus. Natürlich harmonisierte auch der Kulturpolitiker Hilmar Hoffmann mit diesem Zeitgeist, wenn er die bildungsbürgerliche Abschirmung öffnen und ein breiteres, heterogenes Publikum an die Kunst führen wollte. Sein Credo „Kultur für alle!“ war eine wichtige und gerechtfertigte Position während der gesellschaftlichen Umbrüche. Das vermehrte Auftauchen von moderner und zeitgenössischer Kunst im öffentlichen Raum seit den 60er/70er Jahren, in dessen Kontext Hoffmanns Credo immer wieder gerne zitiert wird, ist nur eine Folge davon. Problematisch wird es aber, wenn man davon ausgeht, dass hier eine reale demokratische Öffnung des Kunst- und Kultursektors mit immanenten, positiven, soziokulturellen Konsequenzen entsteht und entsprechende Anwohner und Passanten über die stets gelungenen Werke gefälligst zu reflektieren und sich zu freuen haben.

 

Probleme durch eine neue, autoritäre Pädagogisierung von Kunstwerken

Ungleichheit und Rebellion kann nicht mit Bevormundung zum Schweigen gebracht werden. Das unterstreichen auch aktuelle Vorkommnisse:

Der Künstler Michel Abdollahi (1981*) stellte 2016 in Hamburg und 2017 in Augsburg ein Werk in den öffentlichen Raum: Ein riesiger, gelber Küchenschwamm – authentisch dem handelsüblichen gelben Küchenschwamm nachempfunden, nur in seiner Größe verändert. Die Intention dahinter: Der Schwamm sei ein Symbol gegen Hass und Rassismus und dafür das Negative aus der Gesellschaft und von der Straße weg zu schrubben. Nun kam es zu dem nicht wirklich überraschenden Umstand, dass Kinder mit dem Schwamm und seinem originalen Material spielten, Flocken und größere Stücke herausrissen und auf ihm herumkletterten. Für den Künstler war dies erschreckend. In einem offenen Brief beschuldigte er die Eltern, da sie den Vandalismus ihrer Kinder nicht aufgehalten hätten, dass die Eltern sich für seine Arbeit nicht interessieren würden und das Kunstwerk nicht mit ihren Kindern erörtert hätten. Indirekt warnte er diese Eltern, dass ihre Kinder in Zukunft einen rassistischen, radikalen, mobbenden Weg einschlagen könnten und womöglich den Hitlergruß nachahmen würden. Und, dass in diesem Falle, die Eltern dann wohl auch nicht reagieren würden.

 

Diese Übertreibung führt zu einem Missverstehen von psychologischen Vorgängen. Der freie, sinnliche Spieltrieb von Kindern, zu dem dieses Werk hochgradig einlud, wurde nicht von autoritären Gesellschaftsstrukturen unterbunden. Dieser Spieltrieb fördert Kreativität, Querdenken sowie die individuelle Entwicklung und impft gegen blinden Gehorsam und Unterwerfung in radikale, rassistische Denksysteme. Wenn man hier unbedingt eine Entwicklungsprognose aufstellen möchte, dann die Gegenteilige, nämlich, dass sich solche Kinder später für Freiheit einsetzen werden. Die zweite Erkenntnis aus der Schwamminstallation ist die, dass Kunst im öffentlichen Raum keine autoritäre, (ver-)urteilende Handels- bzw. Reflexionsanweisung besitzen darf. Auch moralische Erpressung zum absoluten Gehorsam der Rezipienten ist das Gegenteil einer demokratisch gedachten Kultur-für-alle-Philosophie.

 

Kunst kann auch separieren

Doch auch unpolitische Kunst im öffentlichen Raum ist nicht problembefreit. Hauptsächlich ästhetisch gedachte Werke, besonders wie man sie aus der Moderne kennt, führen ebenfalls nicht zwangsläufig zu mehr Kunstverständnis. Im Gegenteil, sie kann Anwohner auch zu (neuen) Kunsthassern machen, das heißt separieren anstatt zu vereinen. Können auch Kunsthistoriker nicht immer eine visuelle oder intellektuelle Freude über abstrakte, geometrische Skulpturen verspüren, ist dies bei der Bevölkerung nicht anders. Steht Kunst in einem Museum oder in einer Galerie, kann jeder selbst entscheiden, ob er sich diese anschaut oder nicht. Steht Kunst in einem Wohnviertel, sind die Anwohner gezwungen jeden Tag mit ihr zu leben, es sei denn sie wollen sich strafbar machen und Sachbeschädigung begehen.

 

Lösungsmodelle

Aber eine demokratische Wahl der Bürger für ein Kunstwerk hat ebenfalls ihre Kehrseiten. Würden Qualitätsunterschiede immer erkannt werden? Darüber hinaus darf und sollte Kunst im öffentlichen Raum auch provokant, unerwartet, unbequem und an Minderheiten gerichtet sein. Eine offene Bürgerwahl könnte auch dies nicht immer garantieren. Doch auch Jurys, Städte und Geldgeber machen Fehler. Was kann man verändern?

 

  1. Künstler, Städte und Förderer schrauben die medialen Versprechungen von Kunst im öffentlichen Raum herunter. Zusätzlich werden auch Denkfehler und Misserfolge eingeräumt.
  2. Man gibt einen größeren Teil des Geldes für Kulturwerkzeuge aus: Soziale Initiativen, die praktische Ziele verfolgen. Hier steht der direkte menschliche Nutzen über der Ästhetik und über einer Künstlerintention.
  3. Der historische Monumentalgedanke wird zu Gunsten einer zeitgenössischen Neuorientierung gelockert: Kunst im öffentlichen Raum wird temporärer durch einen regelmäßigen Wechsel über einige Wochen, Monate oder Jahre gedacht. Das heißt: Weniger Bürokratie, mehr Experimente, mutigere, innovativere und spontan agierende Projekte. Außerdem können sich so heterogene Fachjurys mit Bürgerwahlen abwechseln. Statische Orte für Kunst im öffentlichen Raum werden zu laboratorischen, vitalen Kulturplätzen, die auch offene Kunstwerke erlauben.

 

Es ist schade, dass Michel Abdollahi den Erfolg seiner Arbeit nicht verstand und stattdessen an einem starren Skulpturenbegriff festhielt. Seine Setzung des Werkes im öffentlichen Raum, die Schwamm zerpflückenden, eigensinnig spielenden Kinder und die abwartenden Eltern symbolisieren eine demokratische Gesellschaft (denn wäre dies in einer Diktatur möglich gewesen?), Antiautorität und Freiheit als Real-Performance. Die Kinder machten die Arbeit zu einem vollendeten, gelungenen Kunstwerk.

Larissa Kikol
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24. September 2018

Die Kanons

 

Thomas Kerstan hat in der Zeit einen Kanon aufgestellt.  Kreativ ist die Wiederbelebung dieser Idee zwar eher sekundär, kreativ war aber die Reaktion auf seine Liste.

 

 

„Glücklich ist, wer die Welt verlässt, bevor die Welt auf ihn verzichtet“

Timuridischer Spruch am Gur-Emir-Mausoleum in Samarkand, Usbekistan.

 

 

Thomas Kerstan hat in der Zeit vom 15. August 2018 einen Kanon aufgestellt. Der 15. August: Das schreit förmlich nach Sommerloch, nach Nachrichtenleere, nach Füllmaterial für Altpapiersammlungen in spe. Doch gerade dann, wenn der Saharasommer die Menschen müde, die Köpfe leer und die Nachrichtenlage dünn werden lässt, geschieht in so einigen Redaktionen der kreativste Content, weil man endlich mal nicht aktuell sein muss. Kreativ ist die Wiederbelebung der Kanonidee zwar eher sekundär, kreativ war aber die Reaktion auf die Liste. Damit meine ich nicht #diekanon, ein allzu vorhersehbarer Reflex auf die Anzahl der Männer in Kerstans Liste und von ihm ja implizit als Fortführung gewollt. Kreativ meine ich auch nicht die Beantwortung eines selbstdiagnostizierten Desiderats („Was fehlt, ist die große öffentliche Debatte um die Inhalte“) mit einer (inhaltslosen) Liste.

 

 

Mit kreativer Reaktion meine ich Diskurse wie diesen hier: Eine Balthus-Ausstellung in der Fondation Beyeler  wird zum Anlass genommen, den männlich dominierten Kanon zu kritisieren. Die Chefredakteurin des Monopol Magazins Elke Buhr will einen Kanon revidieren, der Repräsentant von Macht und Geschlechterverhältnissen ist, die längst neu verhandelt sind. Sie sagt, dass man sichtbar machen muss, dass Balthus „im Kontext des Patriarchats gearbeitet“ (1) hat. Er hat sicher im Kontext des Patriarchats gearbeitet. Er hat aber auch im Kontext der christlichen Ikonographie gearbeitet, wie Barbara Vinken betont. Welcher Kontext ist jetzt kontextiger? Der synchrone, hermeneutische Blick wie bei Vinken oder der asynchrone Blick, der der heutigen Irritation Raum gibt und eben nicht verstehen will? Ein Kanon als Liste stärkt hermeneutische Fragestellungen, stärkt die Isolierung, die in Begriffen wie Meisterwerk oder Genie der Geistesgeschichte nicht immer gute Dienste erwiesen hat. Und: Ein Kanon bedarf der Gatekeeper, die Gatekeeper aber bedürfen eines geschlossenen Feldes. Elke Buhr hat in diesem Kontext sogar ein hervorragendes kuratorisches Angebot gemacht: Warum stellt man Balthus nicht zusammen mit der Malerin Alice Neel aus, die in ihren gegenständlichen Arbeiten ähnliche Sujets thematisiert? Damit wird meiner Meinung nach der Kern des Problems adressiert: Die Retrospektive als Ausstellungsformat. Fiona McGovern schreibt:

 

„Das konventionelle Ausstellungsformat der Retrospektive definiert sich gemeinhin als eine monografisch ausgerichtete, museale Ausstellung mit dem Anliegen, einen Überblick der unterschiedlichen und meist chronologisch gehängten Werkphasen eines Künstlers zu bieten. (…) So beinhaltet diese „unausweichliche Etappe in der Karriere eines Künstlers“, wie Daniel Buren in seinen Ausführungen zu diesem Ausstellungsformat betont, immer auch eine Form der institutionellen Anerkennung, die in der Regel mit einer globalen Wertsteigerung einhergeht (…).“ (2)

 

Alice Neel. Hartley. 1966. oil on canvas. 127 x 91,5cm. Gift of Arthur M. Bullowa. National Gallery of Art Washington.

 

Zugespitzt heißt das: Die Retrospektive ist ein Werkzeug der Kanonisierung. Wer sie hat ist drin, wer sie nicht hat, muss noch ein wenig länger in der Sparte der Neuentdeckungen ausharren. Es gibt – der Vollständigkeit halber – auch Retrospektiven mit wissenschaftlichem Anspruch, wo tatsächlich nicht nur beweihräuchert und monografisch zurechtgestutzt wird, sondern auch (selbst-)kritisch mit Werk und Kontext umgegangen wird. Aber immer weniger. Eine große monografische Ausstellung ist meist von den Künstlern oder dessen Erben abhängig, die kein Interesse an Kritik haben. Oder aber von leihenden Institutionen, die Neubewertungen ihrer Unique Selling Points ebenfalls nicht notwendigerweise positiv entgegensehen.

Mit jeder retrospektiven Ausstellung, die ja gerne auch auf Tournee gehen, wird der Status des Künstlers durch das Museum als Instanz der Rahmung gesichert, Wert ist die verhandelte Norm und Buhrs Kritik ist somit auch eine Kritik an der erneuten Kanonisierung eines Künstlers, dessen Verbleib im Kanon kritisiert werden müsste. Dabei hat – linguistisch betrachtet – Wert eine problematische Doppelbedeutung: Mit Wert übersetzt der Kanon Geschmack in Rang, eine subjektive Meinung wird ein objektives Kriterium. Ein objektives Kriterium, das sich sowohl ästhetisch als auch finanziell als Wert verhandelt, beide Ausprägungen von Wert sind stark korreliert. Daher sollte man immer begründet urteilen, wenn es um die Erstellung/Revision eines Kanons geht. Was aber weder bei der Frauen-, noch bei der Männerliste geschieht.

Bereits das Wort Kanon, welches aus dem Griechischen mit Summe aller Regeln übersetzt werden kann, besitzt eine exklusive Dimension. Setzt sich ein bestimmter Kanon bspw. in der Kunstgeschichte durch, so geht dieser Prozess immer mit dem Ausschluss von Künstlerinnen und Künstlern, bestimmten Ästhetiken, Regionen oder künstlerischen Medien und Techniken einher. Ein Kanon kann dennoch durchaus nützlich sein. Zur Orientierung, aber auch als Sichtbarmachung der Maßnahmen, die zu ihm geführt haben. Eine Medizin oder gar ein Heilsversprechen ist er nicht. Die Hoffnung, dass „(E)in gemeinsamer Fundus an Büchern, Filmen, Kunstwerken, Erfindungen und Entdeckungen das Große und Ganze zusammenhalten“ kann, die Thomas Kerstan hegt, ist naiv und nicht seine Aufgabe. Oder wie Dirk Knipphals sagt: „Wer angesichts von ausgetragenen Konflikten von Zerrissenheit redet, sollte erst einmal seine eigenen Fantasien von Einheit und Homogenisierung hinterfragen.“

 

Die Kanons in der Zeit und jene Ergänzung bei Watson und im Spiegel zu vergleichen ist aber unfair: Sind es Werke (der bildenden Kunst, der Musik, des Computerspiels…), die in der Zeit als kanonisch bezeichnet werden, kontern die Autorinnen im Spiegel mit (weiblichen) Menschen. Man kann kein Objekt gegen ein Geschlecht in Stellung bringen, ebenso wenig wie umgekehrt. Was bei dieser Debatte allerdings deutlich wird, sind die Vorstellungen eines Kanons zwischen Qualität und Repräsentanz: Die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Löffler sagt richtig: „Ein Kanon ist ja nur dann ein Kanon, wenn er von der Gesellschaft als verbindlich anerkannt wird.“ (3) Um von der Gesellschaft getragen zu werden, so der Umkehrschluss, muss sie sich im Kanon auch vertreten fühlen. Doch wie funktioniert Repräsentation? Hilft die Aufnahme von weiblichen, queeren, nichteuropäischen AUTOREN, ist es wichtig, weibliche, queere, nichteuropäische GESCHICHTEN zu erzählen, egal, wer sie erzählt oder ist es vielleicht doch eine Frage der Qualität, egal welcher Minderheit, die wie immer zwischen Form und Inhalt zu finden ist? Löffler kritisiert zudem zurecht jede Liste, da „ein Kanon sich über lange Zeiträume, manchmal über Jahrhunderte heraus (mendelt). Er besteht aus Texten (oder anderem AS), die von der Gesellschaft als so bedeutend anerkannt werden, dass sie im Gedächtnis der Menschheit lebendig bleiben und über die Zeiten hinweg nicht vergessen werden.“(4) Zu den Gründen des Nichtvergessens schweigt sie, nennt aber Qualität, für die es ihrer Meinung nach „keinen unveränderlichen Maßstab“(5) gebe.

Nanette Salomon hat in einem brillanten Essay die Auslassungssünden der männlich dominierten Kunstgeschichte seit Vasari zusammengetragen. Sie sagt:

 

„Vasari begründete eine Struktur oder eine diskursive Form, die in ihrer unendlichen Wiederholung die Dominanz eines bestimmten Geschlechts, einer bestimmten Klasse und einer Rasse als Tempelwächter von Kunst und Kultur produzierte und perpetuierte.“

 

Aber auch: „Seit Vasari erklärt sich uns ein Kunstwerk allein durch die Biographie seines Schöpfers.“ (6) Wiederholen wir nicht diese Strategien, wenn wir heute – lange nach dessen Tod – den Autor in seiner (weiblichen, migrantischen, queeren) Perspektive restituieren? Der Autor ist tot, die Administration hält nur noch den Fuß in der Tür.

Wir haben uns doch schon recht weit vor- oder besser zurück gearbeitet: 14 Milliarden Jahre Geschichte gefunden. Alles da. Alles wahr. 14 Milliarden Jahre, in denen noch der abseitigste Staub der Ereignisse mit Relevanzverdacht versehen, gespeichert und verknüpft wird. 14 Milliarden Jahre, bevölkert mit völlig fremden Wesen, die zwar Zeit, aber keine Begriffe teilen. Wie kann die Katzenklappe in eine Welt erträglicherer Relevanz-Allianzen – die man Kanon nennt – aussehen, ohne mumifizierte Luft zu atmen?

Festigkeit wird zurecht vakant und die Strukturen dürfen nicht signifikanter als ihr Material werden. Es geht um die Vertikalität der Zeit und nicht nur um Inhalte. Die Becher- oder Gießkannenvorstellung von Kunst muss sich auch einer ästhetischen Debatte stellen. Formal wie inhaltlich zeitlose Kunst ist auch deshalb so nachhaltig, weil sie von Künstlern und Wissenschaftlern immer wieder aufgegriffen wird. Aufgegriffen werden konnte. Denn ja, es geht um Inhalte, aber nicht nur. Auch um die Form. Nicht nur als Selbstüberprüfung, sondern auch als Kratzbaum der Forschung.

 

 

anja.schuermann@uni-duesseldorf.de

 

 

(1) Vgl. https://www.zdf.de/kultur/kulturzeit/elke-buhr-ueber-die-balthus-schau-100.html (4:10), zuletzt besucht: 14.09.2018.

(2) Fiona McGovern, Die Kunst zu zeigen: Künstlerische Ausstellungsdisplays bei Joseph Beuys, Martin Kippenberger, Mike Kelley und Manfred Pernice, Bielefeld 2006, S. 82.

(3) https://www.deutschlandfunk.de/literaturkritikerin-sigrid-loeffler-der-westliche-kanon.691.de.html?dram:article\_id=426620, zuletzt besucht: 14.09.2018.

(4) Ebd.

(5) Ebd.

(6) Nanette Salomon, Der kunsthistorische Kanon – Unterlassungssünden*, in: kritische berichte 4 (1993), S. 27–40, hier S. 28.

 

Anja Schürmann
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Screenshot ©SWR

21. Mai 2018

Teilhabe gleich oder ungleich ‚leichte Sprache‘?

 

Über Kunstvermittlung und ihre Zugänge.

 

 

Als Gregor Jansen, Direktor der Kunsthalle Düsseldorf, in einem Interview die „Infantilisierung der Kunst“ anprangerte und genervt war von ‚leichter Sprache‘ und das „alles dem Thema Vermittlung geopfert wird“, war der Aufschrei groß. Vor allem bei den Kunstvermittlern. Jansen verglich ‚leichte Sprache‘ mit sportlichen Höchstleistungen, die er und sein Team wollen, was aber dem Anspruch der ‚leichten Sprache‘ entgegenstünde. Generell stand sein Appell im Dienste einer Art von Aufklärung, die Erwachsene nicht vor Kunst schützen, warnen oder kleinteilig zu ihr hinleiten will. Komplexität soll als Komplexität darstellbar sein und Populismus negiere genau diese Komplexität und Mehrdeutigkeit.

 

Das aufgezeichnete Video wurde in einer Facebook Gruppe geteilt und mit der rhetorischen Frage versehen: „Darf der Direktor einer Kulturinstitution heute noch so denken?“ Eine Diskussion entspann sich, die – grob gesagt – nein antwortete. Und tatsächlich sehe auch ich einige Kritikpunkte. Auf beiden Seiten:

– Gregor Jansen verknüpft die Entmündigung und Infantilisierung des Besuchers mit einem ADDITIV gedachten Angebot an Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen und Sprachneulingen: Das ist undifferenziert.

– Gregor Jansen sieht „alles dem Thema Vermittlung geopfert“. Auch hier würde ich widersprechen: Kunstvermittelnde und -pädagogische Angebote sind längst nicht in allen Museen oder Ausstellungshäusern zu finden und werden in letzter Zeit zunehmend outgesourced: an unbezahlte und unausgebildete ‚Freiwillige‘, die in Freundeskreisen organisiert diese verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen sollen.

 

Aber auch:

– Die Kunstvermittlung reduziert das Gesagte auf den Tatbestand der ‚leichten Sprache‘. Auch das ist undifferenziert. Außerdem darf sie nicht Gregor Jansen seine Meinung verbieten: Damit wendet sie ähnliche Taktiken der Entmündigung an, die Jansen zu Recht kritisiert.

 

Quelle: Twitter @TiniDo

– Generell ist auch diese Diskussion in den sozialen Medien nicht unbedingt durch Sachlichkeit aufgefallen. Das ist übrigens ebenfalls etwas, was zur – von Jansen zitierten – ‚Erwachsenensprache‘ von Robert Pfaller gehört: Gleichheit in der öffentlichen Debatte ist nur herzustellen, wenn Argumente und nicht Beschimpfungen oder Befindlichkeiten ausgetauscht würden. Gesellschaftliche Solidarität gelingt laut Pfaller erst dann, wenn man Selbstdistanz übt und versucht, eine kollektive Vorstellung von Allgemeinwohl zu erarbeiten, die nicht primär von eigenen Interessen geleitet ist. Die Betonung der „Identitätskostbarkeit oder Verletzbarkeit“ des Einzelnen ist laut Pfaller ein erster Schritt zu Verteilungskämpfen einer entsolidarisierten Gesellschaft, in der nur Ichs oder Kleinkollektive gegeneinander ausgespielt werden. (1) Der für mich interessantere Gedanke aber ist etwas, was keine der Seiten genannt hat: Ist ein Tool, das vor allem Verwaltungsvorschriften, bürokratische Prozesse und Formulare vereinfachen soll, in der Kunstvermittlung geeignet? Und wenn ja, für was?

 

 

Erst einmal ein paar Hintergründe: Die ‚leichte Sprache‘ ist keine deutsche Erfindung. Sowohl in englischsprachigen Ländern als auch in Schweden gibt es die Lätt Läst (das war schwedisch :). Außerdem gibt es Unterschiede zwischen ‚leichter‘ und ‚einfacher Sprache‘, die hier gut erklärt werden. Für erstere existiert ein rigides Regelwerk, für letztere nicht. Außerdem sind die Zielgruppen andere, wobei bei letzterer bspw. auch Senioren und Teenager genannt werden. Seit dem 1. Januar 2018 sollen Behörden und Sozialversicherungsträger mit Menschen in einfacher und verständlicher Sprache kommunizieren. Das ist eine Forderung des Behindertengleichstellungsgesetzes. Deutschland hat aber auch die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert, in deren Artikel 9 steht:

 

„Um Menschen mit Behinderungen eine unabhängige Lebensführung und die volle Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen, treffen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen mit dem Ziel, für Menschen mit Behinderungen den gleichberechtigten Zugang zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln, Information und Kommunikation, einschließlich Informations- und Kommunikationstechnologien und -systemen, sowie zu anderen Einrichtungen und Diensten, die der Öffentlichkeit in städtischen und ländlichen Gebieten offen stehen oder für sie bereitgestellt werden, zu gewährleisten.“ (2)

 

Damit würden nicht nur Versicherungen, Arbeitsagenturen und Ärzte auf die Verwendung von leichter Sprache verpflichtet, sondern jegliche „Dienste, die der Öffentlichkeit in städtischen und ländlichen Gebieten offen stehen“, sprich: Auch Ausstellungshäuser und Museen. Der Hang zum Kompositum und der Fetisch der Rechtssicherheit gehen in der deutschen Sprache seit langem eine unheilige Allianz ein. Und so wichtig es ist – nicht nur für die engere Zielgruppe –, bürokratische Sprachwucherungen zu simplifizieren, umso mehr muss man sich Fragen der Übersetzbarkeit zuwenden, gerade wenn es um andere Fachsprachen geht.

 

 

Fachsprache wäre keine Fachsprache, wenn sie Äquivalente in der ‚leichten Sprache‘ hätte. Ästhetik ist nämlich nicht gleich schön. Es gibt Texte, die keine – wie auch immer geartete – Übersetzung zulassen. Und es gibt Kunst, die keine Texte zulässt. Sie kann nicht im gleichen Maße sprachlich dingfest gemacht werden wie das reale Vorbild jener Übersetzung. Jede Übersetzung wäre eine doppelte, eine Übersetzung von nichttextbasierter Kunst in einen Text, der sich und seine Fachsprachlichkeit nicht nur Fetischen verdankt und eine Übersetzung von Fachsprache in ‚leichte Sprache‘. Und jede Übersetzung versieht unweigerlich die Aussage mit einem eigenen Sinn. Die Ambivalenz und Mehrdeutigkeit der Sprache, ihre genuine Unschärfe, ist nicht etwas, was man bedauern sollte. Man sollte sie nutzen. Nutzen in dem Sinne, dass man sie als Gebärdensprache, als Krücke des stummen Erstaunens nutzt, in einer Sprache, die vielleicht nicht jeder versteht, die aber assoziativ fruchtbar gemacht werden kann, da ihr nicht nur eine reproduktive, sondern auch eine produktive Kraft zukommt. Sie sollte als Kraft, nicht als Norm genutzt werden. Was das konkret heißt? Keine zwei Schalen mit Audioguides, wo auf einer ‚leichte Sprache‘ steht. Eher eine App mit verschiedenen Informationsebenen, die man autonom wählen kann, wie sie beispielsweise das Rijksmuseum entwickelt hat. Professionelle Kunstvermittler, die auf jede Besuchergruppe gezielt eingehen können und so auch verschiedene Vermittlungsniveaus und -ansätze beherrschen. Aber auch: Kunstvermittlungsprogramme, die nicht sprachlich basiert sind. Finanzamtvordrucke, die man nicht verstehen kann, kann man nicht ausfüllen. Kunst kann man durchaus auch ohne jegliche Form der Vermittlung erfahren.

 

Um noch mal zu dem von Jansen zitierten Robert Pfaller zurückzukommen: Er ist der Meinung, dass im Namen der Inklusion viele Maßnahmen, die in den letzten Jahren aufgelegt wurden, Deckmaßnahmen sind (3). Um wirkliche Unterschiede, wie beispielsweise die Tatsache, dass man in Behindertenwerkstätten alles andere als Mindestlohn verdient oder dass der Lohn vieler Menschen mit Behinderungen fast vollständig auf ihre Leistungen angerechnet wird, nicht anzugehen, zeigt man auf Maßnahmen wie ‚leichte Sprache‘ und sagt: Guck mal, hier wird was getan. Er regt sich über marginale Änderungen auf, die großflächigere Ungerechtigkeiten aus dem Blick geraten lassen.

Eine andere Kritik kommt aus den Sprachwissenschaften: Jüngere Forschungen haben belegt, dass Sprache und kognitive Vorstellungskraft nicht unabhängig voneinander sind. Dass eine ausdifferenzierte Sprache auch Effekte des Denkens und Fühlens komplexer gestaltet. Zwar ist die Forschung zu diesen „Relativitätseffekten“ noch jung, doch zieht Anatol Stefanowitsch das Fazit:

 

„Selbst wenn sich ein direkter Zusammenhang zwischen sprachlicher Ausdifferenzierung und der Abstraktheit und Komplexität von Denkprozessen nicht bestätigen ließe, gibt es aber mindestens drei Bezugspunkte zwischen Sprache und Denken, welche die bewusste Einschränkung sprachlicher Komplexität problematisch erscheinen lassen.“ (4) Das ist auch von ihm nicht als generelles Verdikt gegen die ‚leichte Sprache‘ verwendet worden. Aber könnte – und dem schließe ich mich an – als Diskussionsgrundlage für eine Debatte über Formen, Übersetzungs- und Anwendungsbereiche dienen. Man sollte Sprache nicht leichtfertig einfacher gestalten, als es die kommunizierten Inhalte erfordern, denn: Alles wird nie für jeden auf die gleiche Art verständlich sein.

 

 

 

 

(1) Vgl. Robert Pfaller, Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur, Frankfurt a. Main 2017, S. 23f.

(2) https://www.behindertenrechtskonvention.info/uebereinkommen-ueber-die-rechte-von-menschen-mit-behinderungen-3101/

(3) Robert Pfaller, Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur, Frankfurt a. Main 2017, S. 25ff.

(4) http://www.bpb.de/apuz/179343/leichte-sprache-komplexe-wirklichkeit?p=all

Anja Schürmann
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4. April 2018

Dialog der Tauben – Kulturpolitische Maßnahmen und ihre Realität

 

Das institutionelle Verständnis von Kultur weicht in entscheidenden Punkten von dem Selbstverständnis der Künstler*innen ab. Manche kulturpolitischen Entscheidungen werden ohne Rücksprache mit den Betroffenen gefällt; andererseits reagieren viele Produzenten mit einer prinzipiellen und wenig reflektierten Ablehnung gegen alle Vorschläge aus der Politik. Als Vermittler und Moderator zwischen den Parteien lädt das LaB K Vertreter der Künstlerschaft und der Kulturverwaltung zu einem Dialog ein und will herausfinden, welche Kommunikationsknoten künftig gelöst werden müssen und welche Übersetzungsarbeit zu leisten ist.

 

9. März im Glasmoog, Kunsthochschule für Medien Köln

 

Gäste:

Friederike van Duiven (Bildende Künstlerin, Vorsitzende BBK NRW)

Barbara Förster (Leiterin des Kulturamts Köln)

Dr. Hildegard Kaluza (Ministerium für Kultur und Wissenschaft)

Annebarbe Kau (Bildende Künstlerin, Vorstand Deutscher Künstlerbund)

 

Moderation: Dr. Emmanuel Mir


16. März 2018

 

Musikalität einer Bildung – oder: Eine intrinsische Revolution

 

Manuskript des Vortrags anlässlich der Podiumsdiskussion „Dialog der Tauben: Kulturpolitische Visionen und ihre Realität“ (23. Februar 2018 in Köln)

 

 

 

Meine Damen und Herren,

 

in meinem letzten Vortrag im Wintersemester der Akademie des Landesbüros für Bildende Kunst möchte ich eine Perspektive zur Bildung aufzeigen und dazu die Beschreibung einer Konstellation der Musikalität des Denkens aus dem vorherigen Vortrag aufgreifen.

 

Selbst wenn wir die Verantwortung für eine Initiative zur Bildung einmal übernehmen sollten – was, wie wir immer wieder erleben, längst nicht ausgemacht scheint – stünden wir immer noch vor der Frage nach dem Wie, der Gestaltung einer dieser Herausforderung entsprechenden Form. Mit erhöhten Etats allein wäre es sicher nicht getan.

 

Meine Grundthese lautet, dass wir bei der Gestaltung wirkungsvoller Formen einer Musikalität und Interdependenz in der Bildung eine noch einmal ganz neue Aufmerksamkeit für die Ressourcen der freien Kunst entwickeln und in einer erst noch zu gestaltenden Bezugnahme auf diese eigentlich immer noch unterschätzte Quelle zurückgreifen können.  Vor allem die Beweggründe und Arbeitsweisen in der freien Kunst, der intrinsische Charakter und die sich daraus ergebende Athmosphäre der Arbeit und Tätigkeit können grundlegend beispielhaft sein. Es gälte, Modi der Übertragungen, Rahmenbedingungen für methaphorische Momente zu schaffen, um beispielsweise allein schon den ethischen Geschmack der intrinsischen Beweggründe für weitere Teile des gesellschaftlichen Lebens und wirtschaftlichen Handeln zu gewinnen. Ich möchte die Bedeutsamkeit – und letztlich immer auch wirtschaftliche Relevanz – einer Orientierung an den Beweggründen in der freien Kunst andeuten und aufzeigen, wie etwa die für eine Gesellschaft essentielle Kultivierung einer ethischen Musikalität im Zusammenhang mit einer intrinsischen Orientierung und Athmosphäre steht.

 

Lassen Sie mich dazu ein wenig ausholen: Das häufige Auftauchen gleichartiger Motive in der Bildsprache von Märchen in verschiedenen Zeiten und Kulturen führte zur Frage, ob diese Analogien sich mehr oder weniger verborgenen Überlieferungen oder eher archetypischen Quellen verdanken. Eine ähnliche Frage stellt sich bei einem philosophischen Wiedergänger, einer philosophia perennis, dem wiederkehrenden Bild einer existentiellen Konstellation im Verhältnis zum Unfassbaren.

 

Im vorherigen Vortrag hatte ich dieses Grundmotiv in einer Spanne vom ersten Auftauchen in der Vorsokratik – über Dichterinnen und Dichter wie Catharina von Greiffenberg und Friedrich Hölderlin bis hin zu Stimmen des vergangenen Jahrhunderts wie Simone Weil, Ludwig Wittgenstein, Hannah Arendt, Walter Benjamin und Franz Kafka angedeutet: Die Konstellation des Menschen in seinem Verhältnis zum Ungreifbaren, die Implikationen des Erlebens vom Nichtwissen, die Formen einer docta ignorantia, einer belehrten Unwissenheit.

 

Erstmals ausdrücklich wurde diese Perspektive auf das ewige Geheimnis – auch als Affekt des Staunens und der Ehrfurcht – in einem philosophischen Gedicht des Xenophanes aus Kolophon. Gerade in dieser Perspektive eröffnet sich freie Denken im Eros der Unabschließbarkeit, die Intuition in gesteigerter Individualität. Nach Karl-Raimund Popper tritt hier erstmals das plurale, individuelle Denken und Deuten in der Methodik des kritischen Rationalismus als Medium menschlicher Entwicklung zutage.

 

Besonders hervorgehoben durch den Namensgeber der Epoche, Sokrates, nimmt das Motiv, gleichsam als eine Geschmacksrichtung des Geistes seinen Weg durch die Zeiten. In seinem Hinweis auf das oîda ouk eidōs, ich weiss dass ich nicht weiss, oder besser, Ich weiß als Nichtwissender, sieht Sokrates – so trägt er nach Platon in der Apologie, seiner Verteidungsrede vor dem Athener Gericht vor, den eigentlichen Grund der Anklage.

 

Die Implikationen des scheinbar paradoxen Verhältnisses im Widerspiel von Nichtwissen und Erfahrungsmöglichkeit: das freie Spiel der Gedanken, die Gesprächskunst, der Moment individueller Gewissheit im scheinbaren Paradox zum Unfassbaren (der Daimon des Sokrates, eine Art innere Stimme) und eine radikale Individualität, der unbedingt Einzelne in dieser komplementären Konstellation – all dies sei, so Sokrates, der eigentliche Grund für die Tatsache, daß ihm seine Athener Mitbürger mit Verve nach dem Leben trachteten. Auch in der weiteren Überlieferung spielte demgemäß das Bild dieser anthropologischen Konstallation als Gegenfigur einer machtbewehrten Kultur des Positivismus, eine stets dissidente aber gleichwohl unverdrängbare Rolle.

 

 

In mehreren Denkbildern beschreibt Franz Kafka die besagte Konstellation als Resonanzboden und erotischen Vertrauensraum der Kunst wie auch der menschlichen Existenz: „Diese ganze Litteratur ist Ansturm gegen die Grenze“. In dem leidenschaftlichen Verhältnis, der „Kraft des zielenden Blicks“ auf das Unfassbare, und gerade in der Intuition und dem Erlebnis der Unüberwindlichkeit der Grenze, eröffnet sich für Kafka eine besondere Fülle der Erfahrung: „An der Küste ist die Brandung am Stärksten, so eng ist ihr Gebiet und so unüberwindlich.“ Ausdrücklich beschreibt Kafka diese scheinbar paradoxe Konstellation als eine Methodik, als einen komplementären Übergangsraum zwischen Unfassbarkeit und Erfahrung, Gewissheit und Unabschliessbarkeit des Denkens: „Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären, da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muss sie wieder im Unerklärlichen enden.“ Und Dies eben sei die Sache der Kunst: „Die Kunst fliegt um die Wahrheit, aber mit der entschiedenen Absicht sich nicht zu verbrennen. Ihre Fähigkeit besteht darin, in der dunklen Leere einen Ort zu finden, wo der Strahl des Lichts, ohne das dies vorher zu erkennen gewesen wäre, kräftig aufgefangen werden kann.

 

 

Auch Simone Weil beschreibt diese Konstellation als das anthropologische Grundmotiv ihrer Arbeit (In einem zu Kafkas Bildsprache, ohne Kenntnis der Schriften Kafkas, übrigens sehr ähnlichen Tonfall). Auch bei der französischen Philosophin fallen Erlebnis des Unfassbaren und Zuversicht der Erfahrung in Eines: „Die Welt ist die geschlossene Pforte, sie ist eine Schranke und zugleich der Durchgang.“ Wie auch Kafka beschreibt sie Ihr metaphorisches Vertrauen: „Der Übergang zum Transzendenten vollzieht sich, (…) wenn die menschlichen Fähigkeiten – Verstand, Wille, menschliche Liebe – an eine Grenze stoßen (…) und der Mensch auf dieser Schwelle verharrt, über die Hinaus er keinen Schritt tun kann.“ Und auch sie spricht von einer Methode in Betracht auf diese Konstellation: „Die eigentliche Methode der Philosophie besteht darin, die unlösbaren Probleme in ihrer Unlösbarkeit klar zu erfassen, sie dann zu betrachten, weiter nichts, unverwandt, unermüdlich, Jahre hindurch, ohne jede Hoffnung, im Warten.“

 

 

Mit Hinweisen von Ludwig Wittgenstein kommen wir nun weiter zu unserem Beispiel: Der Erfahrung einer ethischen Musikalität in diesem Verhältnis. Auch Wittgenstein betont zunächst das Unfassbare, von dem man nicht sprechen solle, indem man in diesem etwas mit Worten festzustellen suche: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Gleichwohl liegt aber auch für Wittgenstein in dem „zielenden Blick“, in der Ausrichtung, und Perspektive auf das Unerklärliche die essentielle Erfahrungsmöglichkeit und Ermutigung: „Es gibt allerdings Unaussprechliches, dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ Die Kursivierung bei „dies zeigt sich“ stammt von Wittgenstein selbst; es geht ihm also um die Betonung des Offenbarungscharakters in diesem Verhältnis, etwa in dem Sinne, wie auch Walter Benjamin es in wenigen Worten fasste: „Wahrheit [sei] nicht Enthüllung die das Geheimnis vernichte, sondern Offenbarung die ihm gerecht werde.“

 

 

Wittgenstein verweist nun auf eine Erfahrung, die auch in dem lebenszugewandten „mystischen Humor“ Kafkas und Simone Weils wesentlich ist: die Unmittelbarkeit einer ethischen Musikalität, einer gleichsam intrinsischen Ethik in dieser Konstellation. Wittgenstein: „Es ist klar, dass sich die Ethik nicht aussprechen lässt, die Ethik ist transzendental.“

 

Eine aussprechbare Ethik wäre Moral oder Tugendlehre. Eine Sekundärtugend gleichsam. Eine wirksame und tiefbegründete ethische Musikalität gilt für Wittgenstein in ihrer transzendental-intrinsischen Natur als „unaussprechbar“.

 

 

Wäre dies aber denkbar? Und wie wäre es denkbar: Etwas so tragendes, für das praktische Leben bedeutsames, ja für das Überleben der Menschheit in globaler Perspektive entscheidendes wie eine ethische Haltung, ein Verantwortungs- wie auch Sinngefühl, habe seine Quellen gerade im Unfassbaren, in einem ›ewigen Geheimnis‹ ?

 

Die Frage, wie denn ein solcher Offenbarungcharakter, eine solche Übertragung überhaupt funktioniere oder zum Tragen komme, kann ich hier nicht weiter erörtern. Deutlich aber wird schon, dass eine Orientierung nach moralischen Regeln, Gesetzen und Verfassungen allein – so hilfreich und notwendig in ihrer Art diese auch seien – nicht ausreichend ist.

 

 

Hanna Arendt beschreibt in ihrer Vorlesung „Some Questions about moral philosophy“, auf wie schwachen Füßen eine reine Tugend- und Morallehre stehe. Gerade in Anbetracht der Menschheitkatastrophe des deutschen Faschismus habe sie sich als eigentlich halt- und kraftlos erwiesen. Moralische Grundsätze einer scheinbar humanistischen Kultur konnten ohne weiteres und innerhalb kürzester Zeit in ihr Gegenteil verkehrt werden. Das Töten wurde Tugend der Zeit. „Sachzwänge“ lassen sich immer konstruieren – und „der Mensch ist ein Schuft, er gewöhnt sich an alles. (Dostojewskij)

 

Auch Arendt lenkt den Blick auf das Verständniss einer intrinsischen und von daher tragfähigen ethischen Kultur: Diejenigen die sich der national-rassistischen Barbarei verweigert haben, hätten dies nicht getan weil sie sich sagten: „Das darf ich nicht tun“, sondern weil sie einfach wussten: „das kann ich nicht tun.“

 

 

Auch in unserer gegenwärtigen Situation wird deutlich, dass etwa die leitenden Akteure in der Wirtschaft und Industrie letzlich immer wieder zu allem bereit sind; aufgrund der Geschehenisse muss man zu dem Eindruck kommen, daß der Rendite-Typus, bar jeder ethischen Musikalität, nur durch eine – immer mehr erodierende – politische Einhegung noch davon abgehalten wird, immer wieder zu tun, was nur irgend möglich ist.

 

 

 

 

Unsere Gesellschaft versteht sich in postsäkularer Zeit als auf verfassten Regeln und Gesetzen fußend. Das Grundgesetz gibt eine grundlegende ethische Orientierung. Wie wenig aber in der zunehmend komplexen Welt, im immer feineren Gespinst von Technik und Digitalisierung, ethisches Handeln von Regeln und Gesetzen noch erfasst oder eingehegt werden kann – zeigen die jüngsten Ereignisse.

 

Die wirtschaftlichen Folgeschäden der immanenten Ruchlosigkeit – letzlich beruht die neo-liberale Orientierung in der Wirtschaft auf der gleichen Prämisse wie die faschistische Ideologie, dem Wissenschaftsaberglauben des Sozial-Darwinismus – die Folgeschäden eines Mangels an ethischer Musikalität und Herzensschönheit in einer solchermaßen doch weitgehend bestimmenden Wirtschaftskultur verursachen, nach scheinbarem, kurzfristigem Gewinn, unermessliche Schäden in einer zeitlich weiteren und allgemeinen Perspektive.  Auch von hier aus wird deutlich, in welchem Ausmaß eine intrinsische Kultur Einfluss auf reale, greifbare wirtschaftliche und gesellschaftliche Auswirkungen hat.

 

 

Ein Residuum nun – so möchte ich sagen – in dem die intrinsische Orientierung noch lebendig ist, ja wo gleichsam „aus der Natur der Sache her“ gelebt und gearbeitet wird, wo die Resonanzräume noch nachklingen, die ich soeben in der Spanne von Xenophanes bis Weil angedeutet habe, ist die freie Kunst; allerdings auch darin schon bedrängt durch die allgemeine Tendenz zur Marktförmigkeit.  Allein schon in den persönlichen Beweggründen der Akteure und der diesem Genre eigenen intrinsischen Leidenschaft, liegt eine Quelle für eine grundlegend andere Orientierung.

 

Ein verwandter und praktischer Aspekt des „ganz Anderen“, dem revolutionären Charakter des intrinsischen Beweggrundes ist – das will ich hier nur kurz erwähnen – die Vorstellung der Ermöglichung einer breiteren Kultur der intrinsischen Arbeit und Tätigkeit durch die Einführung des allgemeinen Grundeinkommens.

 

 

Wie nun aber eine „Übertragung“ oder Adaption aus der besagten Quelle der „freien Kunst“ in ihrer konkreten gesellschaftlichen Gestaltung aussehen könnte, kann ich hier nur andeuten.

Möglich wäre für Erste, eine Akademie, oder besser: ein kepos als experimentalen Ort zu begründen, wo, nach dem Vorbild der freien Kunst, Erfahrungen metaphorischer Momente und Muster erprobt und aus-geübt werden können; getragen und ermutigt durch eine besondere Umgebung der Überlieferung, einem Umfeld der Erinnerungskunst in einem übergangslosen Zueinander von Kunst, akustischer Kunst, Literatur, Philosophie, Naturwissenschaften, angewandter Kunst und Design.

 

Von dieser Forschungsarbeit in der eigens ausgeprägten Form eines kepos, können Anregungen und konkrete Formen in weitere gesellschaftliche und wirtschaftliche Bereiche übergehen.

Vielleicht kann die Akademie des Landesbüros für bildende Kunst in dieser Ambition eine Vorreiterrolle einnehmen und vor allem auch für das „Ganz Andere“, für den Reichtum der intrinsischen Konstellation eine neue Aufmerksamkeit schaffen.

 

Eine Gesellschaft, die in die Erprobung einer solchen Orientierung investiert und die ja, gerade in NRW, von der Umgebung der freien Kunst her alle Möglichkeiten dazu hat, könnte sich selbst als eine Form der Kunst, als „soziale Plastik“ einer Bildungsgesellschaft entwickeln.

 

 

Nun hatten wir ja in den vergangenen dreissig Jahren eine genau entgegengesetzte Tendenz.  Aufgeschreckt durch Leistungsmessungen wurden gezielt und umfassend zweckgerichtete Motive des Lernens in den Vordergrund gerückt. Bildung als optimierte Zurichtung der human resources für einen Markt in globaler Konkurrenz.

 

Auch das ernüchternde Erlebnis dieser mutwilligen Dekadenz mag zu einer neuen Orientierung ermutigen.

 

Meine Damen und Herren, wir stehen – und ich glaube damit nicht zu große Worte zu machen – in dieser Zeit an einem Scheideweg:

 

Die vor einiger Zeit noch tragenden Narrative der Moderne scheinen entkräftet und erschöpft von den machtvollen und letztlich bestimmenden utilitären Prozessen der wirtschaftlichen und finanzbeherrschenden Kräfte. In der Akkumulation des Gefühls einer unerfindlichen Sinnlosigkeit und dem leeren Prozess einer zynischen Vernunft enstehen neue Anfälligkeiten für längst überwunden Geglaubtes.

 

 

Kultur ist ein höchst fragiles Gebilde. Kulturbrüche in scheinbar hoch-zivilisierten Gesellschaften scheinen plötzlich wieder möglich. Das ist der Schock der jüngsten Zeit: Das fraglose Verständnis von menschlicher Entwicklung überhaupt und die Hoffnung in die Unmöglichkeit der Wiederkehr der Barbarei, dass heisst des national gefärbten Rassismus, den wir gerade doch in Anbetracht der Ungeheuerlichkeit des Geschehens als für immer überwunden glaubten, gerät ins Wanken. Deutlich wird, wie essentiell, wie unschätzbar der Wert von prägenden Motiven aus Kunst, Literatur und Philosophie sind. Lebendige Werte benötigen eine stetige wie fragile Erinnerungskunst in der offenen Überlieferung und intrinsischen Orientierung, im Zuge gleichsam einer vermittelten Unmittelbarkeit.

 

 

Nun aber, da, wie es im Märchen oft heisst wenn die Zeit reif ist: „Die Sonne schon hoch am Himmel steht“ scheint es geboten, auf die Tragweite der intrinsischen Beweggründe und somit auf den ungebrauchten Reichtum der freien Künste aufmerksam zu machen. „Jeder Mensch ist ein Künstler“ – Ich glaube nicht, dass Joseph Beuys diesen Satz in dem Sinne meinte, dass in jedem Menschen ein zur künstlerischen Produktion gereichendes Potenzial ruhe oder auszuleben sei. Vielleicht dies auch – mehr oder weniger. Worauf es Beuys hier wohl eher ankommt, scheint mir, ist der Hinweis auf die grundlegende Begabung in der Konstellation, die ich soben von Xenophanes bis Simone Weil beschriebenen habe, als eine gemeinsame Quelle der künstlerischen Arbeit wie auch jeder Existenz.

 

Dieser Begabung zu ihrem zu-sich-selbst-kommen zu verhelfen (in nunmehr allerdings post-kanonischen, pluralen Formen) im Sinne des Gedankens von Simone Weil, dass die Intelligenz nichts finden –, sondern nur den Weg frei machen müsse, wäre doch einen Versuch wert.

 

Gut möglich, dass nach der neolithischen und industriellen Revolution, nun auch im Nachklang der digitalen – eine intrinsische Revolution unserer Aufmerksamkeit und Gestaltung bedarf.

Axel Grube
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